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Gesammelte Werke

Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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darüber, daß er so lange nicht an Moosbrugger gedacht habe und immer erst durch Clarisse wieder an ihn erinnert werden müsse, obwohl dieser Mensch früher doch fast beständig in seinen Gedanken wiedergekehrt wäre. Selbst in dem Dunkel, durch das Ulrich von der Endstelle der Straßenbahn dem Haus seiner Freunde zuschritt, war jetzt kein Platz für solchen Spuk; eine Leere, worin er vorgekommen, hatte sich geschlossen. Ulrich nahm es mit Befriedigung zur Kenntnis und mit jener leisen Ungewißheit über sich selbst, die eine Folge von Veränderungen ist, deren Größe deutlicher ist als ihre Ursachen. Wohlgefällig durchschnitt er die lockere Finsternis mit dem festeren Schwarz seines eigenen Körpers, als ihm Walter unsicher entgegenkam, der sich in der einsamen Gegend fürchtete, aber gern ein paar Worte gesagt haben wollte, ehe sie zu den anderen stießen. Lebhaft setzte er seine Mitteilungen fort, wo sie abgebrochen worden waren. Er schien sich und dazu auch Clarisse gegen Mißdeutungen verteidigen zu wollen. Überall stoße man, wenn ihre Einfälle auch unzusammenhängend wirkten, dahinter auf einen Krankheitsstoff, der wirklich in der Zeit gäre; dies sei die wunderlichste Fähigkeit, die sie besäße. Sie sei wie eine Rute, die verborgenes Vorkommen anzeige. In diesem Fall die Notwendigkeit, daß man an die Stelle des passiven, bloß intellektuellen und sensiblen Verhaltens des Gegenwartsmenschen wieder «Werte» setzen müsse; die Intelligenz der Zeit habe nirgends mehr einen festen Punkt übrig gelassen, und da könne also nur noch der Wille, ja, wenn es nicht anders ginge, sogar nur die Gewalt, eine neue Rangordnung der Werte schaffen, in der der Mensch Anfang und Ende für sein Inneres finde ...: er wiederholte zögernd und doch begeistert, was er von Meingast gehört hatte.
    Ulrich, der das erriet, fragte ihn unwillig: «Warum drückst du dich denn so geschwollen aus? Das macht wohl euer Prophet? Früher hast du doch nicht genug an Einfachheit und Natürlichkeit haben können?!»
    Walter litt es Clarissens wegen, damit der Freund nicht seine Hilfe verweigere; aber wenn bloß ein Strahl Licht in der mondlosen Nacht gewesen wäre, würde man seine Zähne aufblinken gesehn haben, die er ohnmächtig öffnete. Er erwiderte nichts, aber der zurückgehaltene Ärger machte ihn schwach und die Nähe des muskulösen Gefährten, der ihn gegen die etwas beängstigende Einsamkeit schützte, weich. Plötzlich sagte er: «Stell dir vor, daß du eine Frau liebst, und du triffst einen Mann, den du bewunderst, und erkennst, daß ihn auch deine Frau bewundert und liebt, und ihr fühlt nun beide mit Liebe, Eifersucht und Bewunderung die unerreichbare Überlegenheit dieses Mannes –»
    «Das mag ich mir nicht vorstellen!» Ulrich hätte ihn anhören sollen, aber er wölbte lachend die Schulter, während er ihn unterbrach.
    Walter blickte giftig in seiner Richtung. Er hatte fragen wollen: «Was tätest du in diesem Fall?» Aber das alte Spiel der Jugendfreunde wiederholte sich. Sie schritten durch die Halbhelle des Treppenflurs, und er rief aus: «Verstell dich nicht so: so bis zur Unempfindlichkeit eingebildet bist du doch gar nicht!» Und dann mußte er laufen, um Ulrich einzuholen und leise noch auf der Treppe von allem zu unterrichten, was er wissen müßte.
    «Was hat dir Walter erzählt?» fragte oben Clarisse.
    «Das kann ich schon tun,» gab Ulrich ohne Umschweife zur Antwort «aber ich bezweifle, daß es vernünftig ist.»
    «Hörst du, sein erstes Wort ist ‹vernünftig›!;» rief Clarisse lachend zu Meingast. Sie war in voller Fahrt zwischen Kleiderschrank, Waschtisch, Spiegel und der Tür, die halboffen ihr Zimmer mit dem verband, darin sich die Männer befanden. Von Zeit zu Zeit war sie zu sehn; mit nassem Gesicht und darüberhängendem Haar, mit hochgebürstetem Haar, mit nackten Beinen, in Strümpfen ohne Schuh, den Unterleib schon im langen Gesellschaftskleid, den Oberleib noch in einer Frisierjacke, die wie ein weißer Anstaltskittel aussah ...: dieses Auf- und Abtauchen tat ihr wohl. Seit sie ihren Willen durchgesetzt hatte, waren alle ihre Gefühle in eine leichte Wollust getaucht. «Ich tanze auf Lichtseilen!» rief sie in das Zimmer hinein. Die Männer lächelten; nur Siegmund sah nach der Uhr und trieb geschäftsmäßig zur Eile. Er betrachtete das Ganze wie eine Turnübung.
    Dann glitt Clarisse auf einem «Lichtstrahl» in die Zimmerecke, um eine Brosche zu holen, und feuerte die Lade des

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