Gesammelte Werke
unverständliche und unerinnerbare Worte wie Hormone, Glandeln, Chromosome, Zygoten oder innere Sekretion an ihrem Ohr in ganzen Gesprächen vorbeirauschten. Denn die Keuschheit ihrer Lehrerin kannte keine Grenzen, sobald diese durch wissenschaftliche Beleuchtung verwischt wurden. Diotima war imstande, vor ihren Zuhörern zu sagen: «Das Geschlechtsleben ist kein zu erlernendes Handwerk, es soll uns immer die höchste Kunst bleiben, die zu erlernen uns im Leben gegeben ist!», aber dabei ebensowenig Unwissenschaftliches zu fühlen, wie wenn sie im Eifer von einem «heranzuziehenden» oder einem «schweren Punkt» sprach. Und an solche Ausdrücke erinnerte sich ihre Schülerin nun mit Genauigkeit. Kritische Beleuchtung der Umarmung, körperliche Klärung der Lage, reizbare Zonen, Weg zur Höchstbeglückung der Frau, gut disziplinierte, auf ihre Partnerin achtsame Männer ...: Bonadea war sich vor ungefähr einer Stunde von diesen wissenschaftlichen, geistigen und hochvornehmen Ausdrücken, die sie sonst bewunderte, auf das gemeinste betrogen vorgekommen. Sie hatte zu ihrer Überraschung erst mit Bewußtsein bemerkt, daß diese Worte nicht für die Wissenschaft, sondern auch für das Gefühl eine Bedeutung haben, als aus deren unbeaufsichtigter Gefühlsseite schon die Flammen züngelten. Sie hatte da Diotima gehaßt. «Über so etwas so zu reden, daß man alle Lust daran verlieren muß!» hatte sie gedacht, und unter gräßlichen Rachgefühlen war es ihr nicht anders erschienen, als daß Diotima, die selbst vier Männer habe, ihr gar nichts gönne und sie auf diese Weise hinters Licht führe. Ja, Bonadea hatte die Aufklärung, durch deren Hilfe die Sexualwissenschaft mit den dunklen Geschlechtsvorgängen aufräumt, wahrhaftig für ein Ränkespiel Diotimas gehalten. Sie konnte das jetzt ebensowenig verstehen wie das leidenschaftliche Verlangen nach Ulrich. Sie suchte sich die Augenblicke zu vergegenwärtigen, wo alle ihre Gedanken und Empfindungen ins Rasen geraten waren: ähnlich unverständlich mag sich ein Verblutender vorkommen, wenn er an die Ungeduld zurückdenkt, die ihn verleitet hat, den schützenden Verband abzureißen! Bonadea dachte an Graf Leinsdorf, der die Ehe ein hohes Amt genannt und Diotimas von ihr handelnde Bücher mit einer Rationalisierung des Dienstweges verglichen hatte; sie dachte an Arnheim, der ein Multimillionär war und die Wiederbelebung der ehelichen Treue aus der Idee des Körpers eine echte Zeitnotwendigkeit genannt hatte; und sie dachte an die vielen anderen berühmten Männer, die sie in dieser Zeit kennengelernt hatte, ohne sich auch nur zu erinnern, ob sie kurze oder lange Beine hatten oder fett oder hager waren: denn sie sah nur den strahlenden Begriff der Berühmtheit an ihnen, der von einer ungewissen körperlichen Masse ähnlich ergänzt wurde, wie man den zarten Wänden einer gebratenen jungen Taube durch eine dicke, von Kräutern geäderte Fülle Inhalt gibt. Bei solchen Erinnerungen schwur sich Bonadea, daß sie nie wieder die Beute eines dieser jäh auftretenden Stürme sein wolle, die Oben und Unten zusammenschlügen, und sie schwor sich das so lebhaft zu, daß sie sich schon, sofern sie nur streng bei ihren Vorsätzen bliebe, im Geist und ohne körperliche Bestimmtheit als die Geliebte des feinsten aller Männer sah, den sie sich aus den Verehrern ihrer großen Freundin heraussuchen wollte. Da es aber vorläufig nicht zu leugnen war, daß sie noch in wenig bekleidetem Zustand im Bette Ulrichs lag, ohne die Augen öffnen zu wollen, ging dieses reichhaltige Gefühl einer willigen Zerknirschung, statt sich weiter ins Tröstliche zu entwickeln, in einen jämmerlichen und aufreizenden Ärger über.
Die Leidenschaft, durch deren Wirken Bonadeas Leben in solche Gegensätze aufgeteilt wurde, entsprang zutiefst nicht der Sinnlichkeit, sondern dem Ehrgeiz. Darüber dachte Ulrich nach, der seine Freundin gut kannte, und schwieg, um nicht ihre Vorwürfe zu wecken, während er ihr Gesicht betrachtete, das seinen Blick vor ihm verbarg. Die Urform aller ihrer Begierden erschien ihm als eine Ehrbegierde, die sich in falsche Bahnen, ja sogar wörtlich in falsche Nervenbahnen verirrt habe. Und warum sollte sich nicht wirklich ein sozialer Rekordehrgeiz, der sonst Triumphe darin feiern darf, die größte Menge Bier zu trinken oder sich die größten Edelsteine an den Hals zu hängen, einmal auch wie bei Bonadea als Nymphomanie äußern können?! Diese Äußerungsform hatte sie nun, nachdem
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