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Gesammelte Werke

Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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Hausflur. Ihre Spur war durch aufflammendes und verlöschendes Licht gekennzeichnet, aber der Zufall wollte es, daß Ulrich nichts davon bemerkte, obwohl er schon im Hause war; er hatte den Vorsatz, sie zu wecken, aufgeschoben, um ihr länger Ruhe zu gönnen, und stieß nun mit ihr in der Treppenhalle zusammen, zu der er aus der wenig benutzten, unter der Erde gelegenen Küche emporkam. Er hatte sich dort nach einer Erfrischung für sie umgesehen, da es an diesem Tag kraft fehlender Voraussicht selbst an der notwendigsten Bedienung im Hause gebrach. Als sie nebeneinander standen, fühlte Agathe erst die bisher ohne Ordnung empfangenen Eindrücke sich zusammenfassen, und es geschah mit einem Unbehagen, das sie verzagt machte, als wäre es das beste, sogleich Fersengeld zu geben. Es war etwas teilnahmlos, in gleichgültigen Launen Angehäuftes in diesem Haus, das sie erschreckte.
    Ulrich, der es bemerkte, entschuldigte sich dafür und gab scherzhafte Erklärungen. Er erzählte, wie er zu seiner Wohnung gekommen sei, und erläuterte deren Geschichte im einzelnen, mit den Hirschgeweihen beginnend, die er besaß, ohne auf die Jagd zu gehen, bis zum Boxball, den er vor Agathe tanzen ließ. Agathe sah sich alles mit beunruhigendem Ernst noch einmal an und wandte sogar jedesmal, wenn sie einen Raum verließen, prüfend den Kopf zurück: Ulrich wollte dieses Examen ergötzlich finden, aber mit der Wiederholung wurde ihm seine Wohnung dadurch peinlich. Es zeigte sich, was sonst von Gewohnheit verdeckt war, daß er nur die nötigsten Räume bewohnte und die übrigen wie ein nachlässiger Aufputz an diesen hingen. Als sie nach dem Rundgang beisammen saßen, fragte Agathe: «Warum hast du es aber getan, wenn es dir nicht gefällt?»
    Ihr Bruder versorgte sie mit Tee und allem, was das Haus bot, und ließ es sich nicht nehmen, sie wenigstens nachträglich wirtlich zu empfangen, damit diese zweite Begegnung an leiblicher Aufmerksamkeit nicht hinter der ersten zurückstehe. Hin und her laufend, beteuerte er: «Ich habe alles leichtfertig, falsch und so eingerichtet, daß es in keiner Weise mit mir zusammenhängt.»
    «Aber es ist ja doch alles sehr hübsch» tröstete ihn jetzt Agathe.
    Nun meinte Ulrich, daß es anders wahrscheinlich noch schlechter ausgefallen wäre. «Ich mag Wohnungen nicht leiden, die seelisch nach Maß gemacht sind» erklärte er. «Ich käme mir darin vor, als ob ich auch mich selbst bei einem Innenarchitekten bestellt hätte!»
    Und Agathe sagte: «Ich habe auch vor solchen Wohnungen Angst.»
    «Trotzdem kann es ja nicht so bleiben» berichtigte Ulrich. Er saß jetzt bei ihr am Tisch, und schon damit, daß sie nun immer gemeinsam essen sollten, waren eine Menge Fragen verbunden. Er war eigentlich erstaunt über die Erkenntnis, daß nun wirklich vieles anders werden müsse; er empfand es als eine ganz ungewohnte Leistung, die ihm abverlangt wurde, und hatte anfangs den Eifer des Neulings. «Ein Mensch allein» entgegnete er auf die nachsichtige Bereitwilligkeit seiner Schwester, alles zu lassen, wie es sei «kann eine Schwäche haben: sie geht zwischen seine übrigen Eigenschaften ein und in ihnen unter. Aber wenn zwei eine Schwäche teilen, so bekommt sie im Vergleich mit den nicht gemeinsamen Eigenschaften das doppelte Gewicht und nähert sich einem gewollten Bekenntnis.»
    Agathe konnte das nicht finden.
    «Mit einem andern Wort, wir dürfen doch als Geschwister manches nicht tun, was wir uns als Einzelne gestattet haben; gerade darum sind wir ja zusammengekommen.»
    Das gefiel Agathe. Dennoch tat ihr die verneinende Fassung, daß man bloß beisammen wäre, um etwas nicht zu tun, nicht genug, und nach einer Weile fragte sie, auf seine von vornehmen Lieferanten zusammengetragene Einrichtung zurückkommend: «Ich verstehe es doch noch nicht ganz. Warum hast du dich eigentlich so eingerichtet, wenn du es nicht richtig gefunden hast?»
    Ulrich empfing ihren heiteren Blick und betrachtete dabei ihr Gesicht, das ihm über dem etwas zerknitterten Reisekleid, das sie noch anhatte, plötzlich silberglatt vorkam und so wunderlich gegenwärtig, daß es ebenso nahe wie weit von ihm war oder daß sich Nähe und Ferne in dieser Gegenwart aufhoben, so wie der Mond aus Himmelsweiten plötzlich hinter dem Dach des Nachbarn erscheint. «Warum ich es getan habe?» erwiderte er lächelnd. «Ich weiß es nicht mehr. Wahrscheinlich, weil man es ebensogut anders hätte machen können. Ich habe keine Verantwortung gefühlt.

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