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Gesammelte Werke

Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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ist alles, was du berührst, bis an dein Innerstes verhältnismäßig erstarrt, sobald du es erreicht hast eine ‹Persönlichkeit› zu sein, und übriggeblieben ist, umhüllt von einem durch und durch äußerlichen Sein, ein gespenstiger Nebelfaden der Selbstgewißheit und trüber Selbstliebe. Was ist da nicht in Ordnung? Man hat das Gefühl, irgend etwas wäre noch rückgängig zu machen! Man kann doch nicht behaupten, daß ein Kind ganz anders erlebe als ein Mann! Ich weiß keine entscheidende Antwort darauf, wenn es auch diesen und jenen Gedanken darüber geben mag. Aber seit langem habe ich es in der Weise beantwortet, daß ich die Liebe zu dieser Art Ichsein und dieser Art Welt verloren habe.»
    Es war Ulrich angenehm, daß ihm Agathe zugehört hatte, ohne ihn zu unterbrechen, denn er erwartete ebensowenig eine Antwort von ihr wie von sich selbst und war überzeugt, daß eine Antwort, wie er sie meine, gegenwärtig niemand geben könne. Trotzdem befürchtete er nicht einen Augenblick, wovon er rede, könnte etwa für sie zu schwierig sein. Er betrachtete es nicht als ein Philosophieren und glaubte nicht einmal einen ungewöhnlichen Gesprächsstoff zu behandeln, so wenig wie sich ein junger Mensch, dem er in dieser Lage glich, durch die Schwierigkeit des Ausdrucks davon abhalten läßt, alles einfach zu finden, wenn er, von einem anderen angeregt, die ewigen Fragen «Wer bist du? So bin ich» mit ihm tauscht. Er entnahm die Sicherheit, daß ihm seine Schwester Wort für Wort zu folgen vermöge, ihrem Dasein und nicht einem Denken. Sein Blick ruhte auf ihrem Gesicht, und darin war etwas, das ihn glücklich machte. Dieses Gesicht mit geschlossenen Augen war ganz ohne Rückstoß. Es übte eine grundlose Anziehung auf ihn aus; auch in jener Weise, als zöge es in eine nirgends endende Tiefe. Er fand, in den Anblick dieses Gesichts versinkend, nirgends den Bodenschlamm der aufgelösten Widerstände, an dem sich ein in die Liebe Getauchter abstößt, um wieder empor zur Trockenheit zu kommen. Aber da er es gewohnt war, die Neigung zur Frau als eine gewaltsam umgekehrte Abneigung gegen den Menschen zu erleben, was – wenn er es auch mißbilligte – eine gewisse Sicherheit verbürgt, sich nicht in ihr zu verlieren, erschreckte ihn die reine Geneigtheit, in der er sich neugierig immer tiefer neigte, fast wie eine Gleichgewichtsstörung, so daß er bald diesem Zustand auswich und vor Glück zu einem etwas jungenhaften Scherz seine Zuflucht nahm, um Agathe ins alltägliche Leben zurückzurufen: mit dem vorsichtigsten Griff, dessen er fähig war, versuchte er, ihr die Augen zu öffnen. Agathe schlug sie lachend auf und rief aus: «Dafür, daß ich deine Eigenliebe sein soll, gehst du recht grob mit mir um!»
    Diese Antwort war ebenso jungenhaft wie sein Angriff, und ihre Blicke stemmten sich übertrieben gegeneinander wie zwei Knaben, die balgen möchten, aber vor Heiterkeit nicht können. Plötzlich ließ das Agathe jedoch und fragte ernst:
    «Kennst du den Mythos, den Platon irgendwelchen älteren Vorbildern nacherzählt, daß der ursprüngliche ganze Mensch von den Göttern in zwei Teile geteilt worden sei, in Mann und Weib?» Sie hatte sich auf den Ellbogen aufgerichtet und wurde unerwartet rot, denn sie kam sich nachträglich mit der Frage, ob Ulrich diese wahrscheinlich allgemein bekannte Geschichte kenne, etwas unklug vor. Kurz entschlossen fügte sie darum hinzu: «Nun stellen die unseligen Hälften allerhand Dummheiten an, um wieder ineinander zu fahren: Das steht in allen Schulbüchern für den höheren Unterricht; leider steht nicht darin, warum es nicht gelingt!»
    «Das kann ich dir sagen» fiel Ulrich ein, glücklich zu erkennen, wie genau sie verstanden habe. «Kein Mensch weiß doch, welche von den vielen umherlaufenden Hälften die ihm fehlende ist. Er ergreift eine, die ihm so vorkommt, und macht die vergeblichsten Anstrengungen, mit ihr eins zu werden, bis sich endgültig zeigt, daß es nichts damit ist. Entsteht ein Kind daraus, so glauben beide Hälften durch einige Jugendjahre, sie hätten sich wenigstens im Kind vereint; aber das ist bloß eine dritte Hälfte, die bald das Bestreben merken läßt, sich von den beiden anderen möglichst weit zu entfernen und eine vierte zu suchen. So ‹hälftet› sich die Menschheit physiologisch weiter, und die wesenhafte Einung steht wie der Mond vor dem Schlafzimmerfenster.»
    «Man sollte denken, daß Geschwister doch den halben Weg schon zurückgelegt haben

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