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Gesammelte Werke

Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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ereignen werde; als es nicht geschah und die Rede ihres Bruders abbrach wie ein Pfad, der von einer Straße abgezweigt ist und nicht mehr zurückkehrt, sagte sie: «Nach deiner Erfahrung kann man also nie wirklich aus Überzeugung handeln und wird es nie können. Ich meine» verbesserte sie sich «mit Überzeugung nicht irgendeine Wissenschaft, auch nicht die moralische Dressur, die man uns beigebracht hat, sondern, daß man sich ganz bei sich sein fühlt und daß man sich auch bei allem andern sein fühlt, daß irgend etwas gesättigt ist, was jetzt leer bleibt, ich meine etwas, wovon man ausgeht und wohin man zurückkehrt. Ach ich weiß ja selbst nicht, was ich meine,» unterbrach sie sich heftig «ich hatte gehofft, daß du es mir erklären wirst!»
    «Da meinst du gerade das, wovon wir gesprochen haben» antwortete Ulrich sanft. «Und du bist auch der einzige Mensch, mit dem ich so darüber sprechen kann. Aber es hätte keinen Zweck, wenn ich nochmals anfinge, um ein paar verlockende Worte mehr hinzuzufügen. Eher muß ich wohl sagen, daß ein ‹Mitten-inne-Sein›, ein Zustand der unzerstörten ‹Innigkeit› des Lebens – wenn man das Wort nicht sentimental versteht, sondern in der Bedeutung, die wir ihm soeben gegeben haben, – wahrscheinlich mit vernünftigen Sinnen nicht zu fordern ist.» Er hatte sich vorgebeugt, berührte ihren Arm und sah ihr lange in die Augen. «Es ist vielleicht eine Menschenwidrigkeit» sagte er leise. «Wirklich ist nur, daß wir sie schmerzlich entbehren! Denn damit hängt wohl das Verlangen nach Geschwisterlichkeit zusammen, das eine Zutat zur gewöhnlichen Liebe ist, in der imaginären Richtung auf eine Liebe ohne alle Vermengung mit Fremdheit und Nichtliebe.» Und nach einer Weile fügte er hinzu: «Du weißt doch, wie beliebt alles im Bett ist, was mit Brüderlein und Schwesterlein zusammenhängt: Leute, die ihre wirklichen Geschwister ermorden könnten, albern sich dort als Geschwisterlein an, die unter einer Decke stecken.»
    Sein Gesicht zitterte im Halbdunkel in Selbstverspottung. Aber Agathes Glaube hielt sich an dieses Gesicht und nicht an die Verwirrung der Worte. Sie hatte ähnlich zuckende Gesichter gesehn, die im nächsten Augenblick herabstürzten: dieses kam nicht näher; es schien mit einer unendlich großen Geschwindigkeit auf einem unendlich weiten Weg zu sein. Sie antwortete aufs kürzeste: «Geschwister ist eben nicht genug!»
    «Wir haben ja auch schon ‹Zwillingsgeschwister› gesagt» entgegnete Ulrich, der sich nun geräuschlos erhob, weil er zu bemerken glaubte, daß die große Müdigkeit sich am Ende doch ihrer bemächtigt habe.
    «Man müßte ein Siamesisches Zwillingspaar sein» sagte Agathe noch.
    «Also Siamesische Zwillinge!» wiederholte ihr Bruder. Er war bemüht, ihre Hand aus der seinen zu lösen und sie vorsichtig auf die Decke zu legen, und seine Worte klangen schwerlos: ohne Gewicht und in ihrer Leichtigkeit sich noch ausbreitend, nachdem er schon das Zimmer verlassen hatte.
    Agathe lächelte und sank allmählich in eine einsame Traurigkeit, deren Dunkel bald in das des Schlafs überging, ohne daß sie es in ihrer Übernächtigkeit merkte. Ulrich schlich sich aber in sein Arbeitszimmer und lernte dort, ohne daß er arbeiten konnte, zwei Stunden lang, bis auch er müde wurde, den Zustand kennen, von Rücksicht eingeengt zu sein. Er staunte darüber, wieviel er in dieser Zeit gern getan hätte, das Lärm machte und unterdrückt werden mußte. Das war ihm neu. Und beinahe reizte es ihn ein wenig, obwohl er sich mit großer Teilnahme auszumalen suchte, wie es wäre, mit einem andern Menschen wirklich zusammengewachsen zu sein. Er war wenig davon unterrichtet, wie solche zwei Nervensysteme arbeiten, die wie zwei Blätter an einem Stiel sitzen und nicht nur durch ihr Blut, sondern mehr noch durch die Wirkung der völligen Abhängigkeit miteinander verbunden sind. Er nahm an, daß jede Erregung der einen Seele von der andern mitgefühlt werde, während sich der hervorrufende Vorgang an einem Körper vollziehe, der in der Hauptsache nicht der eigene sei. «Eine Umarmung zum Beispiel: du wirst im andern umarmt» dachte er. «Du bist vielleicht nicht einmal einverstanden, aber dein anderes Ich wirft eine übermächtige Welle des Einverständnisses in dich! Was geht dich an, wer deine Schwester küßt? Aber ihre Erregung, die mußt du mit ihr lieben! Oder du bist es, der liebt, und nun mußt du sie irgendwie daran beteiligen, du kannst doch nicht

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