Gesammelte Werke
Und dann ist man so gut zu ihm wie nie zu sich selbst. Du wirst wahrscheinlich sagen, daß das sexuelle Träume seien; aber mir kommt eher vor, daß es viel ältere sind.»
«Hast du oft solche Träume?» fragte Ulrich.
«Manchmal; selten.»
«Ich beinahe nie» gestand er. «Es ist ewig lange her, daß ich so geträumt habe.»
«Und doch hast du mir einmal erklärt,» sagte nun Agathe «ich meine recht zu Anfang muß es gewesen sein, noch dort im alten Haus –, daß der Mensch vor Jahrtausenden wirklich andre Erlebnisse gekannt hat!»
«Ach, du meinst das ‹gebende› und das ‹nehmende› Sehen?» erwiderte Ulrich und lächelte, obgleich es ja Agathe nicht sah. «Das ‹Umfangen werden› und ‹Umfangen› des Geistes? Ja, von dieser geheimnisvollen Doppelgeschlechtlichkeit der Seele hätte ich natürlich auch sprechen müssen! Wovon übrigens nicht?! In allem spukt etwas davon. Selbst in jeder Analogie steckt ja ein Rest des Zaubers, gleich und nicht gleich zu sein. Aber hast du nicht bemerkt: in allen diesen Verhaltensweisen, von denen wir gesprochen haben, im Traum, in Mythos, Gedicht, Kindheit und selbst in der Liebe, ist der größere Anteil des Gefühls doch durch einen Mangel an Verständigkeit erkauft, und das heißt: durch einen Mangel an Wirklichkeit?»
«Du glaubst also nicht wirklich daran?» fragte Agathe.
Darauf antwortete Ulrich nicht. Aber nach einer Weile sagte er: «Wenn man es in die heillose heutige Ausdrucksweise übersetzt, so kann man das, was heute für jeden erschreckend gering ist, die perzentuelle Beteiligung des Menschen an seinen Erlebnissen und Taten nennen. Im Traum scheinen es hundert Prozente zu sein, im Wachen ist es kein halbes! Du hast es ja heute gleich an meiner Wohnung bemerkt; aber meine Beziehungen zu den Menschen, die du kennen lernen wirst, sind keine anderen. Ich habe das einmal – und wahrhaftig, wenn ich nicht irre, muß ich hinzufügen, daß es im Gespräch mit einer Frau geschehen ist, wo es sehr am Platz war – auch die Akustik der Leere genannt. Wenn eine Nadel in einem leer ausgeräumten Zimmer zu Boden fällt, hat der davon entstehende Lärm etwas Unverhältnismäßiges, ja Maßloses; aber ebenso ist es, wenn zwischen den Menschen Leere liegt. Man weiß dann nicht: schreit man, oder ist es totenstill? Denn alles Unrechte und Schiefe gewinnt die Anziehungskraft einer ungeheuren Versuchung, sobald man ihm im letzten nichts entgegensetzen kann. Findest du nicht auch? Aber verzeih,» unterbrach er sich «du wirst müde sein, und ich lasse dich nicht ruhn. Es scheint, ich fürchte, daß dir manches an meiner Umgebung und meinem Umgang mißfallen wird.»
Agathe hatte die Augen geöffnet. Nach der langen Verborgenheit drückte ihr Blick etwas ungemein schwer zu Bestimmendes aus, das Ulrich über seinen ganzen Körper sich mit Teilnahme ausbreiten fühlte. Er erzählte plötzlich wieder weiter: «Als ich jünger war, habe ich versucht, gerade darin eine Stärke zu sehn. Man hat dem Leben nichts entgegenzusetzen? Gut, so flieht das Leben vom Menschen weg in seine Werke! So ungefähr habe ich gedacht. Und es hat ja auch wohl etwas Gewaltiges auf sich mit der Lieblosigkeit und Verantwortungslosigkeit der heutigen Welt. Zumindest liegt darin etwas von einem Flegeljahrhundert, wie es schließlich in den Jahrhunderten ebenso wie in den Jahren des Wachstums vorkommen mag. Und wie jeder junge Mensch habe ich mich anfangs in Arbeit, in Abenteuer und Vergnügen gestürzt; es schien mir gleich zu sein, was man unternehme, sofern es nur mit vollem Einsatz geschehe. Erinnerst du dich, daß wir einmal über die ‹Moral der Leistung› gesprochen haben? Sie ist das uns eingeborene Bild, nach dem wir uns richten. Aber je älter man wird, desto deutlicher erfährt man, daß dieses scheinbare Übermaß, diese Unabhängigkeit und Beweglichkeit in allem, diese Souveränität der treibenden Teile und der Teilantriebe – sowohl die deiner eigenen gegen dich wie die deine gegen die Welt – kurz, daß alles was wir als ‹Gegenwartsmenschen› für eine Kraft und uns auszeichnende Arteigentümlichkeit gehalten haben, im Grunde nichts ist als eine Schwäche des Ganzen gegenüber seinen Teilen. Mit Leidenschaft und Wille ist dagegen nichts auszurichten. Kaum willst du ganz und mitten in etwas sein, siehst du dich schon wieder an den Rand gespült: das ist heute das Erlebnis in allen Erlebnissen!»
Agathe mit den nun offenen Augen wartete darauf, daß sich in seiner Stimme etwas
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