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Gesammelte Werke

Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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ersten Tagen ihres ersten Beisammenseins, als Agathe gleich ihr Schwesterrecht forderte, möglichst ohne jede seelische Verblümung mit ihm zu sprechen, da er für sie nicht ein Mann wie andere sei. Er erinnerte sich an die mit Schreck vermischte Überraschung, die es ihm als Knaben bereitet hatte, wenn er auf der Straße eine Schwangere oder eine Frau sah, die ihr Kind an der Brust saugen ließ: sorgsam dem Knaben entzogene Geheimnisse wölbten sich dann plötzlich prall und unbefangen in der Sonne. Und vielleicht hatte er lange Zeit Reste solcher Eindrücke mit sich getragen, denn plötzlich war ihm zumute, als fühlte er jetzt ganz frei von ihnen. Daß Agathe Frau war und schon manches hinter sich haben mußte, schien ihm eine angenehme und bequeme Vorstellung zu sein; man mußte sich nicht so in acht nehmen wie bei einem jungen Mädchen, wenn man mit ihr sprach, ja es kam ihm rührend natürlich vor, daß bei einer Frau alles schon moralisch schlaffer sei. Er hatte auch das Bedürfnis, sie in Schutz zu nehmen und durch irgendeine Güte für irgendetwas zu entschädigen. Er nahm sich vor, alles für sie zu tun, was er nur könne. Er nahm sich sogar vor, wieder einen Mann für sie zu suchen. Und dieses Bedürfnis nach Güte gab ihm, kaum daß er es merkte, den verlorenen Faden des Gesprächs zurück.
    «Wahrscheinlich verändert sich in den Jahren der Geschlechtsreifung unsere Eigenliebe» sagte er ohne Übergang. «Denn da wird eine Wiese von Zärtlichkeit, in der man bis dahin gespielt hat, abgemäht, um Futter für einen bestimmten Trieb zu gewinnen.»
    «Damit die Kuh Milch gibt!» ergänzte Agathe nach einer kleinsten Zeit ungezogen und würdevoll, aber ohne die Augen zu öffnen.
    «Ja, das hängt wohl alles zusammen» meinte Ulrich und fuhr fort: «Es gibt also einen Augenblick, wo unser Leben fast alle seine Zärtlichkeit verliert, und diese zieht sich auf jene einzige Ausübung zusammen, die dann damit überladen bleibt: Kommt dir das nicht auch so vor, als ob überall auf der Erde eine entsetzliche Dürre herrschte, während es an einem einzigen Ort unaufhörlich regnete?!»
    Agathe sagte: «Mir kommt es vor, daß ich meine Kinderpuppen mit einer Heftigkeit geliebt habe wie nie einen Mann. Als du abgereist warst, habe ich am Dachboden eine Kiste mit meinen alten Puppen gefunden.»
    «Was hast du damit getan?» fragte Ulrich. «Hast du sie verschenkt?»
    «Wem hätte ich sie schenken sollen? Ich habe sie im Herdfeuer bestattet» erzählte sie.
    Ulrich entgegnete lebhaft: «Wenn ich mich an meine früheste Zeit erinnere, so möchte ich sagen, daß damals Innen und Außen kaum noch getrennt waren. Wenn ich auf etwas zu kroch, kam es auf Flügeln zu mir her; und wenn sich etwas ereignete, das uns wichtig war, so wurden davon nicht etwa bloß wir erregt, sondern die Dinge selbst begannen zu kochen. Ich will nicht behaupten, daß wir dabei glücklicher gewesen sind als später. Wir besaßen uns ja noch nicht selbst; eigentlich waren wir überhaupt noch nicht, unsere persönlichen Zustände waren noch nicht deutlich von denen der Welt abgeschieden. Es klingt sonderbar, und ist doch wahr, wenn ich sage, unsere Gefühle, unsere Willnisse, ja wir selbst waren noch nicht ganz in uns darin. Noch sonderbarer ist, daß ich ebenso gut sagen könnte: waren noch nicht ganz von uns entfernt. Denn wenn du dich heute, wo du ganz im Besitz deiner selbst zu sein glaubst, ausnahmsweise einmal fragen solltest, wer du eigentlich seist, wirst du diese Entdeckung machen. Du wirst dich immer von außen sehn wie ein Ding. Du wirst gewahren, daß du bei einer Gelegenheit zornig wirst und bei einer anderen traurig, so wie dein Mantel das eine Mal naß und das andre Mal heiß ist. Mit aller Beobachtung wird es dir höchstens gelingen, hinter dich zu kommen, aber niemals in dich. Du bleibst außer dir, was immer du unternimmst, und es sind davon gerade nur jene wenigen Augenblicke ausgenommen, wo man von dir sagen würde, du seist außer dir. Zur Entschädigung haben wir es allerdings als Erwachsene dahin gebracht, bei jeder Gelegenheit denken zu können ‹Ich bin›, falls uns das Spaß macht. Du siehst einen Wagen, und irgendwie siehst du schattenhaft dabei auch: ‹ich sehe einen Wagen›. Du liebst oder bist traurig und siehst, daß du es bist. In vollem Sinn ist aber weder der Wagen, noch ist deine Trauer oder deine Liebe, noch bist du selbst ganz da. Nichts ist mehr ganz so da, wie es in der Kindheit einmal gewesen ist. Sondern es

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