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Gesammelte Werke

Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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bloß sinnlose physiologische Vorgänge in sie werfen ...!?» Ulrich fühlte einen starken Reiz und ein großes Unbehagen von diesen Gedanken; es kam ihm schwer vor, hier die Grenze zwischen neuen Ansichten und Verzerrung der gewöhnlichen richtig zu ziehen.
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26
    Frühling im Gemüsegarten
    Das Lob, das ihr von Meingast zuteil wurde, und die neuen Gedanken, die sie von ihm empfing, hatten auf Clarisse tiefen Eindruck gemacht. Ihre geistige Unruhe und Erregbarkeit, die sie manchmal selbst beunruhigte, hatte nachgelassen, war diesmal aber nicht, wie es andere Male geschehen, von Mißmut, Bedrückung und Aussichtslosigkeit abgelöst worden, sondern von einer außergewöhnlich gespannten Klarheit und durchsichtigen inneren Atmosphäre. Wieder einmal überblickte sie sich selbst und begriff sich kritisch. Ohne zu zweifeln, ja mit einer gewissen Genugtuung nahm sie zur Kenntnis, daß sie nicht besonders klug sei; sie hatte eben zu wenig gelernt. Ulrich dagegen, wenn sie bei solcher vergleichenden Prüfung gerade an ihn dachte, Ulrich war wie ein Eisläufer, der sich auf einer geistigen Spiegelfläche nach Willkür näherte und entfernte. Nie war zu verstehen, woher es kam, wenn er etwas sagte; oder wenn er lachte, wenn er ärgerlich war, wenn seine Augen blitzten, wenn er da war und mit seinen breiten Schultern Walter den Raum im Zimmer wegnahm. Wenn er auch nur neugierig den Kopf umwandte, spannten sich seine Halssehnen wie Taue eines Seglers, der in windheller Fahrt auf und davon zieht. So war immer etwas an ihm, das über das ihr Zugängliche hinausreichte und das Verlangen wachhielt, sich mit dem ganzen Körper auf ihn zu werfen, um es zu fassen. Aber der Wirbel, in dem das manchmal geschah, so daß einmal schon nichts auf der Welt festgestanden war als der Wunsch, von Ulrich ein Kind zu haben, war jetzt weit fortgezogen und hatte nicht einmal jene Bruchstücke zurückgelassen, von denen die Erinnerung nach dem Abflauen von Leidenschaften unverständlich übersät ist. Clarisse wurde höchstens ärgerlich, wenn sie ihres Mißerfolgs in Ulrichs Wohnung gedachte, und soweit dies überhaupt noch geschah, doch war ihr Selbstgefühl heil und frisch bereitet. Diese Wirkung hatten eben die neuen Vorstellungen, mit denen sie von ihrem philosophischen Gast ausgestattet wurde; abgesehen von den unmittelbaren Erregungen, in die sie durch das Wiedersehen mit diesem ins Großartige veränderten Freund versetzt wurde. So vergingen viele Tage in einer mannigfaltigen Spannung, während alle in dem kleinen, jetzt schon in der Frühlingssonne Hegenden Haus darauf warteten, ob Ulrich die Erlaubnis bringen werde oder nicht, Moosbrugger an seinem unheimlichen Aufenthaltsort zu besuchen.
    Und vornehmlich war es ein Gedanke, der Clarisse in diesem Zusammenhang wichtig vorkam: der Meister hatte die Welt «in einem Maße wahnfrei» genannt, daß sie von nichts mehr wisse, ob sie es lieben oder hassen solle, und Clarisse war seither überzeugt, daß man sich einem Wahn überlassen müsse, wenn man der Gnade teilhaftig geworden sei, ihn zu fühlen. Denn ein Wahn ist eine Gnade. Wer wußte denn damals noch, ob er rechts oder links gehen solle, wenn er aus dem Hause trat, außer er hatte einen Beruf wie Walter, der ihn hinwieder beengte, oder eine Verabredung wie sie mit den Eltern oder Geschwistern, die sie langweilte! Das ist in einem Wahn anders! Da ist das Leben so praktisch eingerichtet wie eine moderne Küche: man sitzt in der Mitte, braucht sich kaum zu rühren und kann von seinem Platz aus alle Einrichtungen in Gang setzen. Für so etwas hatte Clarisse immer Sinn gehabt. Und überdies verstand sie unter Wahn nichts anderes als man Willen nennt, nur besonders gesteigert. Clarisse hatte sich bisher davon eingeschüchtert gefühlt, daß sie sich nur weniges von dem, was in der Welt vorgehe, richtig zu erklären vermöge, aber seit der Wiederbegegnung mit Meingast sah sie sich gerade dadurch begünstigt, nach eigenem Ermessen zu lieben, zu hassen und zu handeln. Denn nach des Meisters Wort tat der Menschheit nichts so not wie Wille, und dieses Gut, heftig wollen zu können, befand sich seit je in ihrem Besitz! Wenn Clarisse das bedachte, wurde ihr kalt vor Glück und heiß vor Verantwortung. Natürlich war Wille dabei nicht etwa das düstere Bemühen, ein Klavierstück zu erlernen oder in einem Streit recht zu behalten, sondern ein mächtiges Gesteuertwerden vom Leben, ein Ergriffensein von sich selbst, ein Dahinschießen im

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