Gesammelte Werke
Kopf gesetzt hatte, ihn zu verehren, nicht so leicht davon abzubringen wäre. Trotzdem war es geradezu eine Nach-Sonnenuntergang-Einsamkeit und Grabeskälte, die er zu fühlen glaubte, während er beobachtete, daß Clarisse niemals zu ihm herübersehe, sondern mit dauernden Zeichen der Teilnahme Meingast anblicke. Und überdies war er auch noch stolz darauf. Seit sich Meingast in seinem Hause befand, war er ebenso stolz auf die Abgründe, die darin aufsprangen, wie vorsorglich bemüht, sie zu verstopfen. Aus der Höhe des Stehenden hatte er zu dem auf den Knien liegenden Siegmund nun die Worte gelangen lassen: «Das empfinden und kennen wir natürlich alle, eine gewisse Neigung für das Problematische und Ungesunde!» Er war kein Duckmäuser. Er hatte sich in der kurzen Zeit, seit ihn Clarisse auf Grund dieses Satzes einen Philister genannt hatte, das Wort von der «kleinen Ehrlosigkeit des Lebens» zurechtgemacht. «Eine kleine Ehrlosigkeit ist gut wie süß oder sauer,» belehrte er jetzt seinen Schwager «aber wir sind verpflichtet, sie solange in uns zu verarbeiten, bis sie dem gesunden Leben zur Ehre gereicht! Und ich verstehe unter einer solchen kleinen Ehrlosigkeit» fuhr er fort «ebensowohl das sehnsüchtige Paktieren mit dem Tod, das uns ergreift, wenn wir die Tristanmusik hören, wie die heimliche Anziehung, die den meisten Sexualverbrechen zu eigen ist, obwohl wir ihr nicht nachgeben! Denn ich nenne ehrlos und menschlich-widersacherisch, siehst du, ebensowohl das Elementare des Lebens, wenn es in Not und Krankheit über uns Herr wird, wie das übertrieben Geistige und Gewissenhafte, das dem Leben Gewalt antun möchte. Alles, was die Grenzen überschreiten möchte, die uns gezogen sind, ist ehrlos! Mystik ist ebenso ehrlos wie die Einbildung, daß man die Natur auf eine mathematische Formel bringen könne! Und die Absicht, Moosbrugger aufzusuchen, ist ebenso ehrlos wie –» Hier unterbrach sich Walter einen Augenblick, um den Nagel auf den Kopf zu treffen, und schloß mit den Worten: «wenn du am Krankenbett Gott anrufen wolltest!»
Gewiß war damit nun etwas gesagt und sogar überraschend die berufsmäßige und unwillkürliche Humanität des Arztes dafür angerufen worden, daß Clarissens Vorhaben und seine überspannten Begründungen die Grenzen des Erlaubten überschritten. Aber im Verhältnis zu Siegmund war Walter ein Genie, und das hatte sich darin geäußert, daß Walter von seinem gesunden Denken zu solchen Gedankenbekenntnissen geführt worden war, während sich die noch gesündere Gesundheit seines Schwagers darin ausdrückte, daß er zu dieser fragwürdigen Stoffwelt entschlossen schwieg. Siegmund häufelte die Erde mit seinen Fingern und neigte dabei, ohne die Lippen zu öffnen, manchmal den Kopf von der einen auf die andere Seite, so als ob er ein Probierglas umschütten wollte, oder auch nur so, als ob er dann in dem einen Ohr genug hätte. Und nachdem sich Walter ausgesprochen hatte, trat eine furchtbar tiefe Stille ein, und in dieser hörte nun Walter einen Satz, den ihm wohl auch Clarisse einmal zugerufen haben mußte; denn er hörte zwar nicht in halluzinatorischer Lebendigkeit, aber doch gleichsam in der Stille ausgespart die Worte: «Nietzsche und Christus sind an ihrer Halbheit zugrunde gegangen!» Und auf eine nicht ganz geheuerliche, an den «Bergwerksdirektor» erinnernde Weise schmeichelte ihm das. So war es eine eigentümliche Lage, wie er, die Gesundheit selbst, hier im kühlen Garten stand zwischen einem Mann, auf den er hochmütig hinabblickte, und zwei unnatürlich Erhitzten, zu deren stummen Gebärdenspiel er überlegen und dennoch sehnsüchtig hinübersah. Denn Clarisse war nun einmal die kleine Ehrlosigkeit, die seine Gesundheit brauchte, um nicht zu verflauen, und eine heimliche Stimme sagte ihm, daß Meingast soeben im Begriff sei, die zulässige Kleinheit dieser Ehrlosigkeit maßlos zu vergrößern. Er bewunderte ihn mit der Empfindung, die ein unberühmter Verwandter für einen berühmten hat, und es erregte mehr seinen Neid als seine Eifersucht, also ein Gefühl, das noch heftiger als diese nach innen schlug, Clarisse mit ihm verschwörerisch wispern zu sehn; aber doch erhob es ihn auch irgendwie, er wollte, im Bewußtsein seiner eigenen Würde, nicht böse werden, er verbot sich, hinüberzugehn und die beiden zu stören, er fühlte sich angesichts ihrer Erhitzung als den Überlegenen, und aus alledem entstand, er wußte selbst nicht wie, ein zwittrig unklarer,
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