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Gesammelte Werke

Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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abseits aller Logik geborener Gedanke: daß die beiden dort drüben in einer ungehemmten und zu mißbilligenden Weise Gott anriefen.
    Das war, wenn man einen solchen wunderlich gemischten Zustand schon ein Denken nennen muß, doch ein solches, das sich in keiner Weise aussprechen läßt, weil die Chemie seines Dunkels durch den lichten Einfluß der Sprache augenblicklich verdorben wird. Walter verband auch, wie er vor Siegmund gezeigt hatte, durchaus keinen Glauben mit dem Wort Gott, und nachdem es ihm eingefallen war, entstand eine scheue Leere rings darum: so kam es, daß nach langem Schweigen das erste, was Walter wieder zu seinem Schwager sagte, sehr weit davon entfernt war. «Du bist ein Esel,» warf er ihm vor «wenn du dich nicht befugt glaubst, ihr von diesem Besuch ganz energisch abzuraten; wozu bist du denn Arzt?!»
    Siegmund nahm auch das ganz und gar nicht übel. «Das mußt du schon allein mit ihr ausmachen» gab er, ruhig auf blickend, zur Antwort und wandte sich wieder seiner Beschäftigung zu.
    Walter seufzte. «Clarisse ist natürlich ein ungewöhnlicher Mensch!» begann er abermals. «Ich kann sie sehr gut verstehn. Ich gebe sogar zu, daß sie mit der Strenge ihrer Auffassung nicht unrecht hat. Denk bloß an die Armut, den Hunger, die Verkommenheit jeder Art, wovon die Welt voll ist, an die Einstürze von Bergwerken zum Beispiel, deren Verwaltungsräte an den Stützbauten gespart haben –!»
    Siegmund ließ kein Zeichen davon, daß er daran denke, erkennen.
    «Nun, sie tut es!» fuhr Walter mit Strenge fort. «Und ich finde das wunderschön von ihr. Wir andern beschaffen uns viel zu leicht ein gutes Gewissen. Und sie ist besser als wir, wenn sie verlangt, daß wir alle uns ändern und uns ein tätigeres Gewissen, gleichsam eines ohne Ende, ein unendliches, aneignen sollen. Aber was ich dich frage, ist: muß das denn nicht zu moralischem Skrupelwahn führen, wenn es nicht überhaupt schon etwas Ähnliches ist? Das mußt du doch entscheiden können?!»
    Siegmund setzte sich bei dieser dringenden Aufforderung auf ein Bein und blickte seinen Schwager prüfend an. «Verrückt!» erklärte er. «Aber man kann nicht sagen im medizinischen Sinn.»
    «Und was sagst du dazu,» fragte Walter weiter, ohne seiner Überlegenheit zu gedenken «daß sie behauptet, ihr würden Zeichen geschickt?»
    «Sie sagt, daß ihr Zeichen geschickt werden?» fragte Siegmund bedenklich.
    «Ja doch! Dieser verrückte Mörder zum Beispiel! Und neulich jenes verrückte Schwein unter unseren Fenstern!»
    «Ein Schwein?»
    «Nein, eine Art Exhibitionist.»
    «So?» sagte Siegmund und überlegte es. «Dir werden auch Zeichen geschickt, wenn du etwas zum Malen findest. Sie drückt sich bloß aufgeregter aus als du» entschied er schließlich.
    «Und daß sie behauptet, sie müsse die Sünden dieser Menschen und auch meine und deine und ich weiß nicht wessen Sünden noch, auf sich nehmen?!» rief Walter dringend.
    Siegmund war aufgestanden und stäubte die Erde von seinen Händen. «Sie fühlt sich von Sünden bedrückt?» fragte er überflüssigerweise noch einmal und stimmte höflich zu, als freute er sich, seinem Schwager endlich beipflichten zu können: «Das ist ein Symptom!»
    «Das ist ein Symptom?» fragte Walter zerknirscht.
    «Sündenwahn ist ein Symptom» bestätigte Siegmund mit der Unparteilichkeit des Fachmanns.
    «Es ist aber so» fügte Walter hinzu und legte gegen das Urteil, das er selbst heraufbeschworen hatte, augenblicklich Berufung ein: «Du mußt dich doch zuerst selbst fragen: gibt es Sünde? Natürlich gibt es Sünde. Aber dann gibt es auch einen Sündenwahn, der kein Wahn ist. Das verstehst du vielleicht nicht, denn es ist ja überempirisch! Es ist die gekränkte Verantwortung des Menschen für ein höheres Leben!»
    «Aber sie behauptet doch, es würden ihr Zeichen geschickt!» wandte nun der beharrliche Siegmund ein.
    «Aber mir werden doch auch Zeichen geschickt, sagst du!» rief Walter heftig aus. «Und ich sage dir, ich möchte manchmal mein Schicksal auf den Knien bitten, daß es mich zufrieden lassen möge: aber jedesmal schickt es wieder, und die großartigsten Zeichen schickt es durch Clarisse!» Dann fuhr er ruhiger fort: «Sie behauptet zum Beispiel jetzt, dieser Moosbrugger bedeute sie und mich in unserer ‹Sündengestalt› und sei uns als Mahnung geschickt worden; aber das läßt sich so verstehen: es ist ein Symbol dafür, daß wir die höheren Möglichkeiten unseres Lebens, sozusagen seine

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