Gesammelte Werke
Lichtgestalt, vernachlässigen. Vor vielen Jahren, als sich Meingast von uns trennte –»
«Aber Sündenwahn ist ein Symptom für gewisse Störungen!» erinnerte ihn Siegmund mit dem verzweifelten Gleichmut des Fachmanns.
«Du kennst natürlich nur Symptome!» verteidigte Walter lebhaft seine Clarisse. «Denn das andere ginge über deine Erfahrung hinaus. Aber vielleicht ist gerade dieser Aberglaube, der alles, was nicht zur gemeinsten Erfahrung stimmt, als eine Störung behandelt, die Sünde und Sündengestalt unseres Lebens! Und Clarisse verlangt eine innere Aktion dagegen. Schon vor vielen Jahren, damals, als sich Meingast von uns trennte, haben wir –» Er dachte an die Geschichte, wie Clarisse und er Meingasts «Sünden auf sich nahmen», aber es war aussichtslos, Siegmund den Vorgang einer geistigen Erweckung zu erklären, und so schloß er unbestimmt mit den Worten: «Und schließlich, daß es immer Menschen gegeben hat, die die Sünden aller gleichsam auf sich lenkten oder auch in sich verdichteten, wirst du vielleicht selbst nicht leugnen?!»
Sein Schwager sah ihn zufrieden an. «Nun also!» gab er freundlich zur Antwort. «Da beweist du jetzt selbst, was ich schon zu Anfang behauptet habe. Daß sie sich von Sünden bedrückt glaubt, ist ein typisches Verhalten bei gewissen Störungen. Aber es gibt im Leben auch untypische Verhaltensweisen: Mehr habe ich nicht behauptet.»
«Und diese übertriebene Strenge, mit der sie alles durchführt?» fragte Walter nach einer Weile seufzend. «Ein solcher Rigorismus ist doch kaum noch normal zu nennen?»
Indessen hatte Clarisse eine wichtige Unterredung mit Meingast. «Du hast gesagt,» erinnerte sie ihn «daß die Menschen, die sich darauf etwas zugute tun, daß sie die Welt erklären und verstehen, niemals etwas an ihr ändern werden?»
«Ja» erwiderte der Meister. «‹Wahr› und ‹Falsch›, das sind die Ausreden derer, die nie zu einer Entscheidung kommen wollen. Denn die Wahrheit ist ein Ding ohne Ende.»
«Darum hast du gesagt, daß man den Mut haben muß, sich zwischen ‹Wert› und ‹Unwert› zu entscheiden?!» forschte Clarisse.
«Ja» sagte der Meister etwas gelangweilt.
«Wunderbar verächtlich ist auch die von dir geprägte Formel,» rief Clarisse aus «daß im heutigen Leben die Menschen bloß das tun, was geschieht!»
Meingast blieb stehn und blickte zu Boden; man hätte ebensogut meinen können, daß er sein Ohr neige wie daß er ein Steinchen betrachte, das rechts vor ihm am Weg liege. Aber Clarisse fuhr nicht fort, ihm den Honig des Lobs darzureichen; auch sie hatte jetzt den Kopf gebeugt, so daß ihr Kinn beinahe in der Halsgrube ruhte, und ihr Blick bohrte sich zwischen Meingasts Stiefelspitzen in die Erde; eine leichte Röte zog in ihrem fahlen Antlitz auf, als sie, vorsichtig die Stimme dämpfend, mit den Worten fortfuhr: «Du hast gesagt, alle Sexualität ist nur ein Bocksprung!»
«Ja, das habe ich bei einer bestimmten Gelegenheit gesagt. Was unserer Zeit an Willen abgeht, verausgabt sie, abgesehen von ihrer sogenannten wissenschaftlichen Tätigkeit, in Sexualität!»
Clarisse zögerte eine Weile, dann sagte sie: «Ich selbst habe viel Willen, aber Walter macht Bocksprünge!»
«Was ist eigentlich zwischen euch los?» fragte der Meister, neugierig geworden, fügte aber sogleich beinahe angewidert hinzu: «Ich kann es mir natürlich denken.»
Sie befanden sich in einer Ecke des baumlosen Gartens, der in der vollen Frühlingssonne lag, und ungefähr in der schräg gegenüberliegenden Ecke kauerte Siegmund am Boden, während Walter, neben ihm stehend, lebhaft auf ihn einsprach. Der Garten hatte die Form eines an die Längsmauer des Hauses gelehnten Rechtecks, um dessen Gemüse- und Blumenbeete ein Kiesweg lief, während zwei Mittelwege mit ihrem Kies auf der noch unbewachsenen Erde ein helles Kreuz bildeten. Clarisse erwiderte, vorsichtig zu den beiden anderen Männern hinüberspähend: «Er kann vielleicht nicht dafür: du mußt wissen, daß ich Walter in einer Weise anziehe, die nicht recht ist.»
«Ich kann es mir vorstellen» erwiderte diesmal der Meister mit einem teilnehmenden Blick. «Du hast etwas Knabenhaftes.»
Clarisse fühlte bei diesem Lob ein Glück durch ihre Adern springen wie Hagelkörner. «Hast du ‹damals› gesehn, daß ich mich rascher anzuziehn vermag als ein Mann?!» fragte sie ihn geschwind.
In das wohlwollend gefaltete Gesicht des Philosophen geriet Verständnislosigkeit. Clarisse kicherte. «Das
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