Gesammelte Werke
unwillkürlich nach der Längsachse des Gartens richtete und es drehen mußte, um Clarisse scharf zu sehn: schon in diesem schlichten Verhältnis überwog plötzlich der stumme Nachdruck des Lebens die natürliche Zufälligkeit. Aus der Fülle der sich vor dem Auge drängenden Bilder tauchte etwas Geometrisch-Linienhaftes und Ungewöhnliches empor. So konnte es zugehen, wenn Clarisse in fast stofflosen Übereinstimmungen, wie dem Umstand, daß ein Mann unter ihrem Fenster stünde und ein anderer Zimmermann wäre, einen Sinn fand; die Geschehnisse hatten dann wohl eine Art sich aneinander zu lagern, die anders war als die gewöhnliche, gehörten einem fremden Ganzen an, das andere Seiten an ihnen hervorkehrte, und weil es diese aus ihren unaufdringlichen Verstecken hervorholte, Clarisse zu der Behauptung ermächtigte, sie selbst sei es, die das Geschehen anziehe: Es war schwer, das nüchtern auszudrücken, aber schließlich fiel Walter auf, daß es doch gerade etwas ihm Wohlbekannten aufs nächste verwandt wäre, nämlich dem, was geschehe, wenn man ein Bild male. Auch ein Bild schließt auf eine nicht bekannte Weise jede Farbe und Linie aus, die nicht mit seiner Grundform, seinem Stil, seiner Palette übereinstimmt, und zieht anderseits das aus der Hand, was es braucht, kraft genialer Gesetze, die anders als die gewöhnlichen der Natur sind. In diesem Augenblick war nichts mehr von jenem runden Wohlgefühl der Gesundheit an ihm, das die Auswüchse des Lebens auf das mustert, was sich brauchen ließe, wie er es noch vor kurzem gepriesen hatte; eher das Leid eines Knaben, der sich zu einem Spiel nicht hintraut.
Aber Siegmund war nicht der Mann, wenn er einmal etwas aufgegriffen hatte, es rasch aus der Hand zu legen. «Clarisse ist übernervös» stellte er fest. «Sie hat immer mit dem Kopf durch die Wand wollen, und in irgend etwas steckt ihr Kopf jetzt fest. Du mußt ordentlich anpacken, auch wenn sie sich wehrt!»
«Ihr Ärzte versteht von seelischen Vorgängen nicht das geringste!» rief Walter aus. Er suchte nach einem zweiten Angriffspunkt und fand, ihn. «Du sprichst von ‹Zeichen›» fuhr er fort, wobei sich über seine Gereiztheit die Freude lagerte, daß er von Clarisse sprechen konnte «und prüfst besorgt, wann Zeichen eine Störung sind und wann nicht; aber ich sage dir: der wirkliche Zustand des Menschen ist der, wo alles Zeichen ist! Einfach alles! Du kannst vielleicht der Wahrheit ins Auge schaun, aber nie wird dir die Wahrheit ins Auge schaun; dieses göttlich unsichere Gefühl wirst du nie kennen lernen!»
«Ihr seid ja beide verrückt!» bemerkte Siegmund trocken.
«Ja, natürlich sind wir es!» rief Walter aus. «Du bist als Mensch doch unschöpferisch: du hast nie erfahren, was ‹sich ausdrücken› bedeutet, daß es für den Künstler überhaupt erst ‹verstehen› bedeutet! Der Ausdruck, den wir den Dingen geben, entwickelt erst den Sinn, sie richtig aufzunehmen. Ich verstehe erst, was ich oder ein anderer will, indem ich es ausführe! Das ist unsere lebendige Erfahrung, zum Unterschied von deiner toten! Du wirst natürlich sagen, das sei paradox, eine Verwechslung von Ursache und Wirkung, du, mit deiner medizinischen Kausalität!»
Aber Siegmund sagte nicht das, sondern wiederholte bloß unbeirrt: «Es ist sicher zu ihrem eigenen Vorteil, wenn du dir nicht zuviel von ihr gefallen läßt. Nervöse Menschen bedürfen einer gewissen Strenge.»
«Und wenn ich am offenen Fenster Klavier spiele» fragte Walter, die Warnung seines Schwagers scheinbar überhörend: «was tue ich? Menschen gehen vorbei, vielleicht sind Mädchen darunter, wer will, bleibt stehn, ich spiele für junge Liebespaare und einsame Alte. Es sind Kluge und Dumme. Ich gebe ihnen ja auch nicht Vernunft. Was ich spiele, ist nicht Vernunft. Ich teile mich ihnen mit. Ich sitze unsichtbar in meinem Zimmer und gebe ihnen Zeichen: ein paar Töne, und es ist ihr Leben, und es ist mein Leben. Du könntest wirklich sagen, daß auch das verrückt ist! ...» Plötzlich verstummte er. Das Gefühl: «Ach, ich wüßte euch allen wohl etwas zu sagen!», dieses Grund-Ehrgeiz-Gefühl des sich zur Mitteilung gedrängt fühlenden Erdenbürgers mittleren Schaffensvermögens, klappte zusammen. Jedesmal, wenn Walter in der weichen Leere hinter seinem geöffneten Fenster saß und mit dem hohen Bewußtsein des Künstlers, der tausende Unbekannte beglückt, seine Musik in die Luft hinausließ, war dieses Gefühl wie ein aufgespannter Schirm, und
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