Gesammelte Werke
hätte sie nicht den Zwiespalt in ihrem Bruder bemerkt, was sie vorderhand auch davon abhielt, heftigen Widerstand zu leisten, wenn er es für vorteilhaft fand, den geselligen Kreis, den sie durchstreiften, aufs weiteste auszudehnen. Auf diese Weise kam es, daß sich die Geschwister seit Agathes Ankunft weit mehr ins Treiben der Gesellschaft mischten, als es Ulrich für sich allein getan hätte.
Dieses gemeinsame Auftreten, nachdem man durch lange Zeit bloß ihn allein gekannt und von ihm nie ein Wort über seine Schwester vernommen hatte, erregte kein geringes Aufsehn. Eines Tags war General Stumm von Bordwehr mit seiner Ordonnanz, seiner Aktentasche und seinem Laib Brot wieder bei Ulrich erschienen und hatte mißtrauisch witternd die Luft geprüft. In der Luft hing ein unbeschreiblicher Geruch. Dann entdeckte von Stumm einen Damenstrumpf, der an einer Stuhllehne hing, und sagte mißbilligend: «Natürlich, die jungen Herrn!» «Meine Schwester» erklärte Ulrich. «Aber geh! Du hast doch gar keine Schwester!» berichtigte ihn der General. «Da plagen uns die hochwichtigsten Sorgen, und du versteckst dich mit einem Mäderl!» Im gleichen Augenblick betrat Agathe das Zimmer, und er verlor die Fassung. Er sah die Verwandtschaft und fühlte an der Arglosigkeit des Auftritts, daß Ulrich die Wahrheit gesprochen habe, ohne doch von dem Gedanken abgeraten zu sein, daß er eine Freundin Ulrichs vor sich habe, die diesem nun freilich unverständlich und irreführend ähnlich sah. «Ich weiß nicht, wie mir in dem Moment geschehen ist, Gnädigste,» erzählte er es später Diotima «aber mir hätte nicht anders zumut sein können, wenn er selbst plötzlich wieder als Fähnrich vor mir gestanden wäre!» Denn Stumm fühlte, da ihm Agathe überaus gefiel, bei ihrem Anblick jenen Stupor, den er als das Anzeichen tiefer Ergriffenheit verstehen gelernt hatte. Seine zarte Leibesfülle und empfindsame Natur neigten zu fluchtartigem Rückzug aus so kniffligen Umständen, und Ulrich erfuhr, trotz aller Bemühungen, ihn zum Bleiben zu veranlassen, nicht mehr viel von den wichtigen Sorgen, die den gebildeten General zu ihm geführt hatten.
«Nein!» tadelte sich dieser. «Nichts ist dermaßen wichtig, daß man deswegen so stören dürfte wie ich!»
«Aber du hast uns doch nicht gestört!» versicherte Ulrich lächelnd. «Was solltest du denn stören!?»
«Nein, natürlich nicht!» versicherte nun Stumm, erst recht verwirrt. «Natürlich, in gewissem Sinn nicht. Aber trotzdem! Schau, ich komm lieber ein anderes Mal wieder!»
«So sag doch wenigstens, warum du da bist, ehe du wieder wegläufst!» forderte Ulrich.
«Aber nichts! Gar nichts! Eine Kleinigkeit!» warf Stumm in seinem Verlangen hin, Fersengeld zu geben. «Ich glaube, das ‹Große Ereignis› beginnt jetzt!»
«Ein Pferd! Ein Pferd! Zu Schiff nach Frankreich!» rief Ulrich in heiterer Erregung durcheinander aus.
Agathe sah ihn verwundert an. «Ich bitte um Verzeihung,» wandte sich der General an sie «Gnädige werden ja gar nicht wissen, um was es sich handelt.»
«Die Parallelaktion hat eine krönende Idee gefunden!» ergänzte Ulrich.
«Nein,» schränkte es der General ein «das habe ich nicht gesagt. Ich habe nur sagen wollen: Das von allen erwartete Ereignis beginnt jetzt zu entstehn!»
«Ach so!»sagte Ulrich. «Das tut es doch schon seit Beginn.»
«Nein» versicherte der General ernst. «Nicht bloß so. Es liegt jetzt derzeit ein ganz entschiedenes Man-weiß-nicht-was in der Luft. Nächstens findet bei deiner Kusine eine ausschlaggebende Zusammenkunft statt. Frau Drangsal –»
«Wer ist das?» unterbrach ihn Ulrich bei diesem neuen Namen.
«Du hast dich eben so zurückgezogen!» warf ihm der. General bedauernd vor und wandte sich an Agathe, um das augenblicklich wieder gut zu machen. «Frau Drangsal ist die Dame, die den Dichter Feuermaul protegiert. Den kennst du auch nicht?» fragte er, indem er seinen runden Körper wieder zurück drehte, als aus der Richtung Ulrichs keinerlei Bestätigung kam.
«Doch. Der Lyriker.»
«Halt so Verse» meinte der General, mißtrauisch dem ihm ungewohnten Wort ausweichend.
«Sogar gute. Und allerhand Theaterstücke.»
«Das weiß ich nicht. Ich hab auch meine Aufzeichnungen nicht bei mir. Aber er ist der, der sagt: der Mensch ist gut. Und mit einem Wort, Frau Professor Drangsal protegiert halt die These, daß der Mensch gut ist, und man sagt, das sei eine europäische These, und Feuermaul soll eine große Zukunft
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