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Gesammelte Werke

Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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energisch angepackt, bewegten sich beunruhigend vor ihr, als wäre ihre Bedeutung mehr in der Luft zu sehen denn zu hören. Es kam dazu, daß sie einen Rain entlang gingen, der Agathe einen wundervollen Blick auf das tief gewölbte Tal öffnete, während diese Lage ihren Begleiter offensichtlich wie eine Kirchenkanzel oder ein Katheder anmutete. Sie blieb stehen und zog mit ihrem Hut, den sie all die Zeit nachlässig in der Hand geschwenkt hatte, einen Strich durch die Rede des Unbekannten. «Sie haben sich» sagte sie «also doch ein Bild von mir gemacht: ich sehe es durchleuchten, und es ist nicht schmeichelhaft!»
    Der lange Herr erschrak, denn er hatte sie nicht kränken wollen, und Agathe sah ihn freundlich lachend an. «Sie scheinen mich mit dem Recht der freien Persönlichkeit zu verwechseln. Und noch dazu mit einer etwas nervösen und recht unangenehmen Persönlichkeit!» behauptete sie.
    «Ich habe nur von der Grundbedingung des persönlichen Lebens gesprochen,» – entschuldigte er sich – «und ich hatte allerdings nach der Lage, in der ich Sie antraf, das Gefühl, daß Ihnen vielleicht mit einem Rat gedient sein könnte. Die Grundbedingung des Lebens wird heute vielfach verkannt. Die ganze moderne Nervosität mit allen ihren Ausschreitungen kommt nur von einer schlaffen inneren Atmosphäre, in der der Wille fehlt, denn ohne eine besondere Anstrengung seines Willens gewinnt niemand jene Einheit und Stetigkeit, die ihn über den dunklen Wirrwarr des Organismus hinaushebt!»
    Wieder kamen da zwei Worte, Einheit und Stetigkeit, vor, die wie eine Erinnerung an Sehnsucht und Selbstvorwürfe Agathens waren. «Erklären Sie mir, was Sie darunter verstehen» – bat sie. «Einen Willen kann es doch eigentlich nur geben, wenn man schon ein Ziel hat?!»
    «Es kommt nicht darauf an, was ich verstehe!» bekam sie in einem Ton zur Antwort, der ebenso mild wie schroff war. «Sagen denn nicht schon die großen Urkunden der Menschheit in unübertrefflicher Klarheit, was wir zu tun und zu lassen haben?» – Agathe war verblüfft. «Zur Aufstellung von grundlegenden Lebensidealen» erläuterte ihr Begleiter «gehört eine so durchdringende Lebens- und Menschenkenntnis und zugleich eine so heroische Überwindung der Leidenschaften und der Selbstsucht, wie das im Lauf der Jahrtausende nur ganz wenigen Persönlichkeiten beschieden war. Und diese Lehrer der Menschheit haben zu allen Zeiten die gleiche Wahrheit bekannt.»
    Agathe setzte sich unwillkürlich zur Wehr, wie es jeder Mensch tut, der sein junges Fleisch und Blut für besser hält als die Gebeine toter Weiser. «Aber Menschengesetze, die vor tausenden Jahren entstanden sind, können doch unmöglich auf die heutigen Verhältnisse passen!» rief sie aus.
    «Nicht entfernt so sehr, wie das von Skeptikern behauptet wird, die von der lebendigen Erfahrung und Selbsterkenntnis losgelöst sind!» erwiderte ihr Zufallsgefährte mit bitterer Befriedigung. «Tiefe Lebenswahrheit wird nicht durch Debattieren vermittelt, – sagt schon Platon; der Mensch vernimmt sie als lebendige Deutung und Erfüllung seiner selbst! Glauben Sie mir, was den Menschen wahrhaft frei macht, und was ihm die Freiheit nimmt, was ihm wahre Seligkeit gibt und was sie vernichtet: das unterliegt nicht dem Fortschritt, das weiß jeder aufrichtig lebende Mensch ganz genau im Herzen, wenn er nur hinhorcht!»
    Das Wort «lebendige Deutung» gefiel Agathe, aber es war ihr ein unerwarteter Einfall gekommen: «Sind Sie vielleicht religiös?» fragte sie. Sie sah ihren Begleiter neugierig an. Er antwortete nicht. «Sie sind doch am Ende kein Geistlicher?!» wiederholte sie und beruhigte sich an seinem Bart, weil ihr plötzlich die übrige Erscheinung einer solchen Überraschung fähig zu sein schien. Man muß ihr zugutehalten, daß sie nicht erstaunter gewesen wäre, wenn der Fremde nebenbei im Gespräch gesagt hätte: Unser ‹erlauchter Herrscher, der Göttliche Augustus›: sie wußte zwar, daß in der Politik die Religion eine große Rolle spiele, aber man ist so gewohnt, die der Öffentlichkeit dienenden Ideen nicht ernst zu nehmen, daß die Vermutung, die Parteien des Glaubens bestünden aus gläubigen Menschen, leicht so übertrieben erscheinen kann wie die Forderung, ein Postsekretär müsse ein Markenliebhaber sein.
    Nach einer langen, irgendwie schwankenden Pause entgegnete der Fremde: «Ich möchte Ihre Frage lieber nicht beantworten; Sie sind zu weit von alledem entfernt.»
    Aber Agathe war von einer

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