Gesammelte Werke
nicht wirklich teilnehmen kann, und es ist etwas völlig Einfaches. So ist die Welt eingerichtet. Wir tragen unser Tierfell mit den Haaren nach innen und können es nicht ausstreifen. Und diesen Schreck in der Zärtlichkeit, diesen Alptraum der steckenbleibenden Annäherung, den erleben die regelrecht guten, die ‹kurz und guten› Menschen nie. Was sie ihr Mitgefühl nennen, ist sogar ein Ersatz dafür, der zu verhindern hat, daß sie etwas vermissen!»
Agathe vergaß, daß sie soeben etwas gesagt hatte, das einer Lüge so ähnlich war wie keiner Lüge. Sie sah, daß in Ulrichs Worten die Enttäuschung von der Vision eines Aneinander-Teilhabens durchleuchtet war, vor der die gewöhnlichen Beweise der Liebe, Güte und Teilnahme ihre Bedeutung verloren; und sie verstand, daß er darum von der Welt öfter als von sich sprach, denn man mußte sich wohl mitsamt der Wirklichkeit ausheben wie eine Tür aus der Angel, wenn das mehr als eitel Träumerei sein sollte. In diesem Augenblick war sie weit weg von dem Mann mit dem schütteren Bart und der schüchternen Strenge, der ihr wohltun wollte. Sie vermochte es aber nicht zu sagen. Sie sah Ulrich bloß an, dann sah sie weg, ohne zu sprechen. Dann tat sie irgend etwas, dann sahen sie einander wieder an. Das Schweigen machte nach kürzester Zeit den Eindruck, daß es schon Stunden währe.
Der Traum, zwei Menschen zu sein und einer –: in Wahrheit war die Wirkung dieser Erdichtung in manchen Augenblicken der eines über die Grenzen der Nacht getretenen Traumes nicht unähnlich, und auch jetzt schwebte sie zwischen Glaube und Leugnung in einem solchen Gefühlszustand, daran die Vernunft nichts mehr zu bestellen hatte. Es war erst die unbeeinflußbare Beschaffenheit der Körper, wovon das Gefühl in die Wirklichkeit zurückgewiesen wurde. Diese Körper breiteten vor dem suchenden Blick ihr Sein, da sie einander doch liebten, zu Überraschungen und Entzückungen aus, die sich erneuten wie ein in den Strömen des Begehrens schwebendes Pfauenrad; aber sobald der Blick nicht bloß an den hundert Augen des Schauspiels hing, das die Liebe der Liebe gibt, sondern zu dem Wesen einzudringen versuchte, das dahinter dachte und fühlte, verwandelten sich diese Körper in grausame Kerker. Es fand sich wieder einer vor dem andern, wie schon so oft zuvor, und wußte nichts zu sagen, weil zu allem, was die Sehnsucht noch zu sagen oder zu wiederholen gehabt hätte, eine allzuweit hinübergebeugte Bewegung gehörte, für die es keinen Stand und Boden gab.
Und nicht lange, so wurden darüber unwillkürlich auch die körperlichen Bewegungen langsamer und erstarrten. Vor den Fenstern erfüllte noch immer der Regen die Luft mit seinem zuckenden Vorhang aus Tropfen und den einschläfernden Geräuschen, durch deren Eintönigkeit die himmelhohe Öde herabfloß. Es schien Agathe Jahrhunderte her zu sein, daß ihr Körper einsam sei; und die Zeit rann, als rinne sie mit dem Wasser vom Himmel. Im Zimmer war jetzt ein Licht wie ein ausgehöhlter Silberwürfel. Blaue, süßliche Schärpen von Rauch achtlos verbrennender Zigaretten umschlangen sie und Ulrich. Sie wußte nicht mehr, ob sie bis ins Innerste empfindlich und zärtlich sei oder ungeduldig und schlecht auf ihren Bruder zu sprechen, dessen Ausdauer sie bewunderte. Sie suchte sein Auge und fand es erstarrt wie zwei Monde in dieser unsicheren Atmosphäre schweben. Und in demselben Augenblick geschah ihr nun, was nicht aus ihrem Willen zu kommen schien, sondern von außen, daß das quellende Wasser vor den Fenstern plötzlich fleischig wurde wie eine aufgeschnittene Frucht und seine schwellende Weichheit zwischen sie und Ulrich drängte. Vielleicht schämte sie sich oder haßte sich deswegen sogar ein wenig, aber eine völlig sinnliche Ausgelassenheit – und gar nicht nur, was man Entfesseln der Sinne nennt, sondern auch, ja weit eher, ein freiwilliges und freies Ablassen der Sinne von der Welt! – begann sich ihrer zu bemächtigen; und sie konnte dem gerade noch zuvorkommen und es vor Ulrich sogar verbergen, indem sie mit der schnellsten aller Ausreden, daß sie etwas zu besorgen vergessen hätte, aufsprang und das Zimmer verließ.
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42
Auf der Himmelsleiter in eine fremde Wohnung
Kaum war das vollbracht, faßte sie aber den Beschluß, daß sie den sonderbaren Mann aufsuchen werde, der ihr seine Hilfe angeboten hatte, und schritt sogleich an die Ausführung. Sie wollte ihm gestehen, daß sie nicht mehr wisse, was sie mit sich beginnen
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