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Gesammelte Werke

Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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solle. Sie hatte keine deutliche Vorstellung von ihm; ein Mensch, den man unter Tränen gesehen hat, die in seiner Gesellschaft auftrockneten, wird nicht leicht jemand so erscheinen, wie er wirklich ist. Darum dachte sie unterwegs über ihn nach. Sie glaubte nüchtern nachzudenken; aber in Wahrheit geschah es noch ganz phantastisch. Sie eilte durch die Straßen und trug vor ihren Augen das Licht aus ihres Bruders Zimmer. Rechtes Licht sei es aber gar nicht gewesen, überlegte sie; eher mochte sie sagen, daß alle Dinge in dem Zimmer plötzlich die Fassung verloren hätten, oder eine Art von Verstand, der sonst wohl an ihnen sein mußte. Sollte es aber so sein, daß bloß sie selbst die Fassung verloren hätte, oder ihren Verstand, so wäre das auch nicht nur auf sie beschränkt gewesen, denn es hatte doch auch in den Dingen eine Befreiung erweckt, worin es sich von Wundern regte. «Im nächsten Augenblick hätte es uns aus den Kleidern geschält wie ein silbernes Messer, ohne daß wir auch nur einen Finger wirklich gerührt hätten!» dachte sie.
    Allmählich beruhigte sie sich aber jetzt an dem Regen, der ihr harmloses, graues Wasser prasselnd auf Hut und Mantel schüttete, und ihre Gedanken nahmen eine gemäßigtere Art an. Vielleicht half auch die einfache, in Eile übergeworfene Kleidung dabei mit, denn sie lenkte ihre Erinnerung auf schirmlose Schulmädelwege und unschuldige Zustände zurück. Die Wandernde entsann sich sogar unerwartet einer arglosen Sommerszeit, die sie mit einer Freundin und deren Eltern auf einer kleinen Insel im Norden verbracht hatte: dort hatten sie zwischen der harten Herrlichkeit von Himmel und Meer einen Nistplatz der Seevögel entdeckt, eine Mulde voll von weißen, weichen Vogelfedern. Und nun wußte sie es: der Mann, zu dem es sie hinzog, erinnerte sie an diesen Nistplatz. Die Vorstellung freute sie. Allerdings hätte sie es sich zu jener Zeit, angesichts der strengen Aufrichtigkeit, die zum Bedürfnis der Jugend nach Erfahrung gehört, wohl kaum durchgehen lassen, daß sie sich dermaßen unlogisch, ja eben jugendlich-unreif, wie sie es jetzt mit Fleiß geschehen ließ, bei der Vorstellung des Weichen und Weißen einem überirdischen Grausen überlasse. Dieses Grausen galt Professor Lindner; aber auch das Überirdische galt ihm.
    Die Ahnung voll Gewißheit, es stehe alles, was ihr begegne, in märchenhafter Verbindung mit etwas Verborgenem, war ihr aus allen erregten Zeiten ihres Lebens bekannt; sie spürte es als eine Nähe, fühlte es hinter sich und hatte die Neigung, auf die Stunde des Wunders zu warten, wo sie nichts zu tun hätte, als die Augen zu schließen und sich zurückzulehnen. Ulrich aber sah in überirdischen Träumereien keine Hilfe, und seine Aufmerksamkeit schien meistens davon in Anspruch genommen zu sein, den überirdischen Inhalt unendlich langsam in einen irdischen zu verwandeln. Agathe erkannte darin den Grund, warum sie ihn binnen vierundzwanzig Stunden jetzt schon zum drittenmal verlassen hatte, fliehend in der wirren Erwartung von etwas, das sie in Obhut nehmen und von den Mühsalen, oder auch nur von der Ungeduld ihrer Leidenschaften ausruhen lassen sollte. Sobald sie sich dann beruhigte, war sie wieder selbst an seiner Seite und sah alle Heilsmöglichkeit in dem, was er sie lehrte; und auch jetzt hielt dies eine Weile an. Als sich ihr aber die Erinnerung an das, was zu Hause «beinahe» geschehen wäre – und eben doch nicht geschah! – wieder lebhafter aufdrängte, war sie auch wieder bis ins Innerste ratlos. Bald wollte sie sich nun einreden, daß ihnen der unendliche Bereich des Unvorstellbaren zu Hilfe gekommen wäre, wenn sie noch einen Augenblick ausgeharrt hätten, bald warf sie sich vor, daß sie nicht abgewartet habe, was Ulrich tun werde; schließlich aber träumte sie davon, daß es das richtigste gewesen wäre, einfach der Liebe nachzugeben und auf der schwindlichten Himmelsleiter, die sie hinanstiegen, der überforderten Natur eine Ruhestufe einzuräumen. Doch da kam sie sich, kaum war dieses Zugeständnis gemacht, wie eines der unfähigen Märchengeschöpfe vor, die nicht an sich halten können und in ihrer weibischen Schwäche vor der Zeit das Schweigen oder ein anderes Gelübde brechen, worauf alles unter Donner zusammenfällt.
    Richtete sich jetzt ihre Erwartung wieder auf den Mann, der sie Rat finden lassen sollte, so hatte er nicht nur die großen Vorteile für sich, die der Ordnung, der Gewißheit, der gütigen Strenge und einem

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