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Gesammelte Werke

Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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Auch am nächsten Tag war keine Auskunft von ihr zu erlangen. Ihre wirklichen Empfindungen kannte sie selbst nicht. Wenn sie an den bei ihr eingedrungenen Brief ihres Ehemanns dachte, den sie sich ein zweites Mal zu lesen nicht überwinden konnte, obwohl sie ihn von Zeit zu Zeit neben sich liegen sah, so erschien es ihr unglaubwürdig, daß seit seinem Empfang kaum ein Tag vergangen sein sollte; so oft hatte sie inzwischen ihren Zustand gewechselt. Manchmal dünkte sie, daß auf diesen Brief wahrhaftig das Schauerwort: Gespenster der Vergangenheit angewandt werden müßte; trotzdem fürchtete sie sich auch wirklich vor ihm. Und zuweilen erregte er in ihr bloß ein kleines Unbehagen, das auch der unverhoffte Anblick einer stehengebliebenen Uhr erregen könnte; zuweilen aber versetzte es sie in starres Nachdenken, daß die Welt, aus der er kam, den Anspruch hatte, die wirkliche für sie zu sein. Was sie innen nicht einmal leise berührte, umgab sie außen unabsehbar und hielt dort noch immer zusammen. Unwillkürlich verglich sie damit, was sich zwischen ihr und ihrem Bruder seit dem Eintreffen dieses Schreibens ereignet hatte. Das waren vor allem Gespräche, und obwohl eines von diesen sie sogar dazu gebracht hatte, an Selbstmord zu denken, war sein Inhalt vergessen, wenn auch wahrscheinlich noch auferstehensbereit und nicht verschmerzt. Es hatte also eigentlich auch wenig zu bedeuten, worüber ein Gespräch geführt wurde, und, ihr herzergreifendes jetziges Leben gegen den Brief abwägend, empfing sie den Eindruck einer tiefen, beständigen, unvergleichlichen, aber machtlosen Bewegung. Sie fühlte sich von alledem an diesem Morgen teils matt und ernüchtert, teils zärtlich und unruhig, wie es ein Fiebernder nach dem Sinken der Temperatur ist.
    Es geschah darum bloß scheinbar unvermittelt, als sie mit einemmal sagte: «So teilzunehmen, daß man selbst erlebt, wie einem andren zumute ist, muß unbeschreiblich schwer sein!» Ulrich entgegnete: «Es gibt Menschen, die sich einbilden, es zu können.» Er war ungelaunt und anzüglich und hatte sie nur halb verstanden. Bei ihren Worten wich etwas zur Seite und gab einem Ärger Raum, der tags zuvor zurückgeblieben war, mochte er ihn auch verachten. Damit war diese Aussprache fürs erste zu Ende.
    Der Morgen hatte einen Regentag gebracht und die Geschwister in ihrem Haus eingeschlossen. Die Blätter der Bäume glänzten öde vor den Fenstern wie nasses Linoleum; der Fahrdamm hinter den Lücken des Laubs spiegelte wie ein Gummischuh. Die Augen mochten den nassen Anblick kaum anfassen. Agathe seufzte auf und erklärte: «Die Welt erinnert heute an unsere Kinderzimmer.» Sie spielte damit auf die kahlen Oberstuben in ihres Vaters Haus an, mit denen sie beide ein verwundertes Wiedersehen gefeiert hatten. Das schien weit hergeholt zu sein; aber sie fügte hinzu: «Es ist die erste Traurigkeit des Menschen inmitten seines Spielzeugs, die immer wiederkehrt!» Unwillkürlich war die Erwartung nach dem dauernd guten Wetter der letzten Zeit wieder auf einen schönen Tag gerichtet gewesen und erfüllte nun den Sinn mit versagter Lust und ungeduldiger Schwermut. Ulrich blickte jetzt auch zum Fenster hinaus. Hinter der grauen, rinnenden Wasserwand gaukelten unausgeführte Entwürfe von Ausflügen, freies Grün und endlose Welt; und vielleicht geisterte dahinter auch der Wunsch, einmal allein zu sein und sich selbst frei nach allen Seiten zu regen, dessen süßer Schmerz die Passionsgeschichte und auch schon die Wiederauferstehung der Liebe ist. Er wandte sich, irgend etwas davon noch im Ausdruck des Gesichts und Körpers, zu seiner Schwester um, und beinahe heftig fragte er sie: «Ich gehöre wohl nicht zu den Menschen, die auf andere teilnehmend eingehen können?»
    «Nein, wirklich nicht!» erwiderte sie und lächelte ihn an.
    «Aber gerade, was solche Menschen sich einbilden,» fuhr er fort, denn erst jetzt hatte er verstanden, wie ernst ihre Worte gemeint waren «daß man miteinander leiden könnte, vermögen sie so wenig wie irgendwer. Sie haben höchstens die Geschicklichkeit von Krankenschwestern, daß sie erraten, was ein Bedürftiger gerne hört –»
    «Also müssen sie doch wissen, was ihm wohltut» wandte Agathe ein.
    «Durchaus nicht!» wiederholte Ulrich hartnäckiger. «Wahrscheinlich trösten sie überhaupt nur dadurch, daß sie reden: wer viel redet, entlädt das Leid des andern tropfenweise wie ein Regen die Elektrizität einer Wolke. Das ist die bekannte Milderung

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