Gesammelte Werke
schob Professor Lindner gütig und entschieden die Nachspeise von sich, obgleich es seine Lieblingsspeise Milchreis mit Zucker und Schokolade war, ohne sie zu berühren, und seinen Sohn durch solche liebende Unerbittlichkeit zwingend, zähneknirschend das gleiche zu tun.
Da geschah es, daß die Wirtschafterin hereinkam und Agathe anmeldete. August Lindner richtete sich verstört auf. «Also doch!» sagte eine schrecklich deutliche stumme Stimme zu ihm. Er war bereit, sich entrüstet zu fühlen, aber er war auch bereit, brüderliche Milde zu empfinden, die sich mit feinem moralischen Tastsinn einfühlt, und diese zwei Gegenspiele, mit einem großen Gefolge von Prinzipien, begannen eine wilde Jagd durch seinen ganzen Körper zu veranstalten, ehe es ihm gelang, den einfachen Befehl zu geben, daß die Dame ins Empfangszimmer geführt werde. «Du erwartest mich hier!» sagte er streng zu Peter und entfernte sich großen Schrittes. Peter aber hatte etwas Ungewöhnliches an seinem Vater bemerkt, er wußte bloß nicht was; immerhin gab es ihm so viel Leichtsinn und Mut, daß er sich nach dessen Abgang und nach kurzem Zögern einen Löffel voll Schokolade in den Mund strich, die zum Überstreuen bereitstand, dann einen Löffel Zucker und schließlich einen großen Löffel voll Reis, Schokolade und Zucker, was er mehrmals wiederholte, ehe er die Schüsseln auf alle Fälle wieder glättete.
Und Agathe saß eine Weile allein in der fremden Wohnung und wartete auf Professor Lindner, denn dieser ging in einem andern Zimmer von einer Seite zur andern und sammelte seine Gedanken, ehe er dem schönen und gefährlichen Weib entgegentrat. Sie sah um sich und fühlte plötzlich eine Angst, als hätte sie sich in den Ästen eines geträumten Baums verstiegen und müßte fürchten, aus seiner Welt von gewundenem Holz und tausend Blättern nicht mehr heil zurückzufinden. Eine Fülle von Einzelheiten verwirrte sie, und in dem dürftigen Geschmack, der sich in ihnen aussprach, verschränkte sich auf das merkwürdigste eine abweisende Herbheit mit einem Gegenteil, für das sie in ihrer Aufregung nicht gleich ein Wort fand. Das Abweisende mochte dabei vielleicht an die gefrorene Steifheit von Kreidezeichnungen erinnern, doch sah das Zimmer auch aus, als röche es großmütterlich verzärtelt nach Arznei und Salbe, und es schwebten altmodische und unmännliche, mit unangenehmer Geflissentlichkeit auf das menschliche Leiden gerichtete Geister in dem Raum. Agathe schnupperte. Und obwohl die Luft nichts als ihre Einbildungen enthielt, sah sie sich von ihren Gefühlen nach und nach weit zurückgeführt und erinnerte sich nun an den bänglichen «Geruch des Himmels», jenen halb entlüfteten und seiner Würze entleerten, an den Tuchen der Soutanen haften gebliebenen Weihrauchduft, den ihre Lehrer einst an sich getragen hatten, als sie ein Mädchen war, das gemeinsam mit kleinen Freundinnen in einem frommen Institut erzogen wurde und keineswegs in Frömmigkeit erstarb. Denn so erbaulich dieser Geruch auch für Menschen ist, die das Richtige mit ihm verbinden, in den Herzen der heranwachsenden weltlich-widerstrebenden Mädchen bestand seine Wirkung in der lebhaften Erinnerung an Protestgerüche, wie sie Vorstellung und erste Erfahrungen mit dem Schnurrbart eines Mannes oder mit seinen energischen, nach scharfen Essenzen duftenden und von Rasierpuder überhauchten Wangen verbinden. Weiß Gott, auch dieser Geruch hält nicht, was er verspricht! Und während Agathe auf einem der entsagungsvollen Lindnerschen Polsterstühle saß und wartete, schloß sich nun der leere Geruch der Welt mit dem leeren Geruch des Himmels unentrinnbar um sie zusammen wie zwei hohle Halbkugeln, und eine Ahnung wandelte sie an, daß sie im Begriff sei, eine unachtsam überstandene Lebensschulstunde nachzuholen.
Sie wußte nun, wo sie war. Zaghaft bereit, versuchte sie, sich dieser Umgebung anzupassen und der Lehren zu gedenken, von denen sie sich vielleicht zu früh hatte abwenden lassen. Aber ihr Herz scheute bei dieser Willigkeit wie ein Pferd, das keinem Zuspruch zugänglich ist, und fing in wilder Angst zu laufen an, wie es geschieht, wenn Gefühle da sind, die den Verstand warnen möchten und keine Worte finden. Trotzdem versuchte sie es nach einer Weile abermals; und um es zu unterstützen, dachte sie dabei an ihren Vater, der ein liberaler Mann gewesen war und für seine Person immer einen etwas seichten Aufklärungsstil zur Schau getragen hatte, unerachtet dessen er
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