Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Gesammelte Werke

Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
Vom Netzwerk:
folgenreichsten Siege über sich gewinnen, und zwar nicht etwa durch ungesundes Hungern, sondern nach ausreichender Ernährung durch gelegentlichen Verzicht auf ein Lieblingsgericht!»
    Peter schwieg und zeigte kein Verständnis dafür, aber sein Kopf bedeckte sich wieder bis über die Ohren mit lebhaftem Rot.
    «Es wäre verfehlt,» fuhr sein Vater bekümmert fort «wenn ich dich für dieses Ungenügend strafen wollte, denn da du überdies kindisch lügst, liegt noch ein solcher Mangel an sittlichem Ehrbegriff vor, daß man den Boden erst urbar machen muß, auf dem die Strafe wirken kann. Ich verlange darum von dir nichts, als daß du das selbst einsiehst, und bin sicher, daß du dich dann auch selbst bestrafen wirst!»
    Dies war der Augenblick, wo Peter lebhaft auf seine schwache Gesundheit hinwies wie auch auf seine Überarbeitung, die in letzter Zeit sein Versagen in der Schule verursacht haben könnten und ihn außerstand setzten, seinen Charakter durch Verzicht auf den letzten Gang zu stählen.
    «Der französische Philosoph Comte» erwiderte Professor Lindner darauf gelassen «pflegte nach dem Essen an Stelle des Desserts auch ohne besonderen Anlaß ein Stück trockenen Brots zu kauen, bloß um dabei an diejenigen zu denken, die nicht einmal trockenes Brot haben. Es ist ein feiner Zug, der uns daran erinnert, daß jede Übung in der Enthaltsamkeit und Einfachheit eine tiefe soziale Bedeutung hat!»
    Peter hatte schon längst eine äußerst unvorteilhafte Vorstellung von der Philosophie, aber auch die Dichtkunst brachte ihm sein Vater nun in üble Erinnerung, denn er fuhr fort: «Auch der Dichter Tolstoi sagt, die Enthaltsamkeit sei die erste Stufe zur Freiheit. Der Mensch hat viele knechtische Begierden, und damit der Kampf gegen alle erfolgreich sei, muß man bei den elementarsten beginnen: der Eßsucht, dem Müßiggang und der Sinnenlust.» – Professor Lindner pflegte eines dieser drei Worte, die in seinen Ermahnungen oft vorkamen, so unpersönlich wie das andere auszusprechen; und lange, ehe Peter mit dem Wort Sinnenlust eine bestimmte Vorstellung zu verbinden vermochte, hatte er schon den Kampf gegen sie an der Seite des Kampfes gegen Eßsucht und Müßiggang kennengelernt, ohne sich etwas anderes dabei zu denken als sein Vater, der sich nichts mehr dabei zu denken brauchte, weil er sicher war, daß damit der Elementarunterricht in der Selbstbestimmung beginne. Auf diese Weise kam es, daß Peter an einem Tag, wo er die Sinnenlust zwar auch noch nicht in ihrer begehrtesten Gestalt kannte, ihr aber doch schon um die Röcke strich, zum erstenmal davon überrascht wurde, daß er gegen ihre lieblose, von seinem Vater gewohnheitsmäßig ausgeführte Verbindung mit Eßsucht und Müßiggang plötzlich zornigen Widerwillen empfand; er durfte es bloß nicht geradeswegs ausdrücken, sondern mußte lügen und rief aus: «Ich bin ein schlichter Mensch und kann mich nicht mit Dichtern und Philosophen vergleichen!» Wobei er trotz seiner Erregung die Worte nicht unbedacht wählte.
    Sein Erzieher schwieg darauf.
    «Ich habe Hunger!» fügte Peter noch leidenschaftlicher hinzu.
    Lindner lächelte schmerzlich und verächtlich.
    «Ich gehe zugrunde, wenn ich nicht genügend zu essen bekomme!» plärrte Peter beinahe.
    «Die erste Erwiderung des Menschen auf alle Eingriffe und Angriffe von außen, geschieht mittels der Stimmwerkzeuge!» belehrte ihn sein Vater.
    Und das «klägliche Geschrei der Begierden», wie Lindner es nannte, erstarb. Peter wollte an diesem besonders männlichen Tag nicht weinen, aber die Forderung, beredten Verteidigungsgeist zu entwickeln, lastete furchtbar auf ihm. Es fiel ihm durchaus nichts mehr ein, und er haßte in diesem Augenblick sogar die Lüge, weil man sprechen muß, um sich ihrer zu bedienen. In seinen Augen wechselte Mordgier mit Klagegeheul. Als es so weit gekommen war, sagte Professor Lindner gütig zu ihm: «Du mußt dir ernsthafte Übungen in der Schweigsamkeit auferlegen, damit nicht der unbedachte und ungebildete Mensch in dir rede, sondern der besonnene und erzogene, von dem Worte ausgehn, die Friede und Festigkeit bringen!» Und dann dachte er mit freundlichem Antlitz nach. «Ich habe, wenn man andere gut machen will, keinen besseren Rat,» eröffnete er das Ergebnis, zu dem er kam, seinem Sohn «als daß man selbst gut sei; auch Matthias Claudius sagt: ‹Ich kann nichts anderes aussinnen, als daß man selbst sein muß, wie man die Kinder machen will›!» Und mit diesen Worten

Weitere Kostenlose Bücher