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Gesammelte Werke

Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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gehauchter Seufzer klang und dem nichts im ganzen Hause antwortete. Clarisse drückte vorsichtig die Klinke des Schlafzimmers nieder; Walter schlief noch! Milchkaffeefarbenes, durch die groben Leinenvorhänge eingedrungenes Licht und der Kinderstubengeruch der endenden Nacht begrüßten sie. Walters Lippen sahen knabenhaft trotzig und warm aus; doch war das Gesicht jetzt einfach, ja verarmt. Es war darin weit weniger zu finden, als es gewöhnlich den Anschein hatte. Bloß ein wollüstiges Machtbedürfnis, das sich sonst nicht zeigte, war jetzt zu beobachten. Clarisse betrachtete reglos an seinem Lager stehend ihren Gatten; und er ahnte sich durch ihren Eintritt im Schlaf gestört und wälzte sich zur anderen Seite. Sie genoß zögernd die Überlegenheit des wachenden über den schlafenden Menschen; sie bekam Lust, ihn zu küssen oder zu streicheln oder auch zu erschrecken, konnte sich aber nicht entscheiden. Sie wollte sich auch nicht der Gefährdung aussetzen, die mit dem Schlafzimmer verbunden war, und offenbar traf es sie unvorbereitet, Walter noch schlafend zu finden. Sie riß von einem Stück Tütenpapier, das von einem Einkauf auf dem Tisch liegengeblieben war, eine Ecke ab und schrieb mit ihren großen Buchstaben darauf: «Ich habe bei dem Schläfer Besuch gemacht und erwarte ihn im Wald.»
    Als Walter bald darauf erwachte und das leere Bett neben dem seinen gewahrte, entsann er sich dumpf, daß während des Schlafes etwas im Zimmer vor sich gegangen sei, sah nach der Uhr, entdeckte den Zettel und streifte rasch die Nachtbefangenheit ab, denn er hatte sich vorgenommen, an diesem Tag besonders früh aufzustehen und zu arbeiten. Da dies nun aber nicht mehr möglich war, erwies es sich nach einiger Betrachtung auch als richtig, die Arbeit noch hinauszuschieben, und obwohl er sich gezwungen sah, sein Frühstück mühsam selbst zusammenzutragen, stand er bald in bester Laune unter den Strahlen der Vormittagssonne. Er setzte voraus, daß Clarisse in einem Hinterhalt stecken und sich in der Form eines Überfalls melden werde, sobald er den Wald betrete; und er zog die gewöhnliche Straße dahin, einen breiten, erdigen Karrenweg, zu dessen Bewältigung es ungefähr einer halben Stunde bedurfte. Es war Halbfeiertag, das heißt einer der Tage, die zwar Feiertage sind, aber amtlich nicht dafür gelten, weshalb merkwürdigerweise an ihnen gerade die Ämter und die sich ihnen anschließenden vornehmen Berufe ganz feierten, während die weniger verantwortlichen Leute und Geschäfte den halben Tag arbeiteten. Es hatte zur Folge, daß Walter einem Privatmann gleich in einer beinahe privaten Natur spazierengehn durfte, in der außer ihm bloß einige unbeaufsichtigte Hühner umherliefen. Er streckte seinen Hals, ob er nicht am Waldrand oder vielleicht gar noch unterwegs ein farbiges Kleid entdecke, aber nichts war zu sehn, und obwohl der Weg anfangs schön war, sank mit der steigenden Wärme bald des Wanderers Lust an der Bewegung. Das rasche Gehen erweichte seinen Kragen und die Poren seines Gesichts, bis sich jenes unangenehme Gefühl feuchter Wärme einstellte, das den menschlichen Körper zu einem Wäschestück erniedrigt. Walter nahm sich vor, sich wieder besser an die Natur zu gewöhnen; räumte sich die Entschuldigung ein, daß er vielleicht bloß zu warm gekleidet sei; ängstigte sich wohl auch darüber, daß ein Unwohlsein in ihm stecken möchte; und seine Gedanken, die anfangs sehr lebendig gewesen waren, wurden auf diese Weise allmählich unzusammenhängend und schwappten schließlich gleichsam in den Schuhen, indes der Weg nicht enden wollte.
    Irgendwann dachte er: «Man denkt wahrhaftig als sogenannter normaler Mensch kaum weniger unzusammenhängend als ein Wahnsinniger!» und dann fiel ihm ein: «Man sagt übrigens auch: es ist wahnsinnig heiß!» Und er lächelte schwach darüber, daß man offenbar nicht ganz ohne Grund so spreche, da doch beispielsweise die Veränderung, die eine Fieberhitze im Kopf anrichte, wirklich etwas Mittleres zwischen den Symptomen der gewöhnlichen Hitze und denen einer Geistesstörung darstelle. Und so, ohne es völlig ernst zu nehmen, ließ sich vielleicht auch von Clarisse sagen, daß sie immer das gewesen sei, was man einen verrückten Menschen nennt, ohne daß es ein kranker sein müßte. Auf diese Frage hätte Walter gerne die Antwort besessen. Der Bruder und Arzt sagte, es bestünde nicht die mindeste Gefahr. Aber Walter glaubte seit langem zu wissen, daß sich Clarisse bereits

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