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Gesammelte Werke

Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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jenseits einer gewissen Grenze befinde. Es war ihm manchmal zumute, sie umschwebe ihn bloß noch wie ein Abgeschiedener, von denen doch auch gesagt wird, daß sie sich nicht gleich von dem trennen könnten, was sie geliebt hätten. Diese Vorstellung war nicht ungeeignet, seinen Stolz zu heben, denn wenig andere Menschen wären solchem – wie er es nun nannte: schaurig-schönen – Ringen der Liebe mit dem Ungeheuerlichen gewachsen gewesen! Freilich fühlte er sich manchmal auch zaghaft. Ein plötzlicher Stoß oder Zusammenbruch konnte seine Frau ins völlig Abstoßende und Häßliche entrücken, und das wäre noch das mindeste gewesen, denn wie, wenn sie ihn dann nicht abstieße?! Nein, Walter nahm an, daß sie ihn abstoßen müßte, denn der entartete Geist sei häßlich! Und Clarisse müßte dann wohl auch in eine Anstalt gebracht werden, wofür es an Geld fehlte. All das war sehr niederdrückend. Dennoch hatte er sich manchmal, wenn ihre Seele gleichsam schon vor den Fensterscheiben flatterte, so kühn gefühlt, daß er nicht wissen wollte, ob er sie noch zu sich hereinziehen oder sich lieber zu ihr hinausstürzen solle.
    Über solchen Gedanken vergaß er den sonniganstrengenden Weg, unterließ es schließlich aber auch zu denken, so daß er wohl lebhaft bewegt verblieb, aber eigentlich ohne Inhalt, oder von schrecklich gewöhnlichen Inhalten erfüllt wurde, die er pathetisch aufnahm; er wanderte wie ein Rhythmus ohne Töne, und als er mit Clarisse zusammenstieß, wäre er beinahe über sie gestolpert. Auch sie war zuerst dem breiten Weg gefolgt, und sie hatte am Waldrand eine kleine Einbuchtung gefunden, wo das ausgegossene Sonnenlicht bei jedem Windhauch den Schatten beleckte wie eine Göttin ein Tier. Der Boden stieg dort sacht an, und da sie am Rücken lag, sah sie die Welt in einem wunderlichen Zwickel. Durch irgendeine gestaltliche Verwandtschaft bemächtigte sich dabei ihres Gemüts auch die unheimliche Stimmung wieder, die sich an diesem Tag besonders leicht in ihre Heiterkeit mengte, und sie begann bei diesem lange dauernden Blick in die waagrecht verschrobene Landschaft Trauer zu empfinden, als ob sie ein Leid oder eine Sünde oder ein Schicksal auf sich nehmen sollte. Eine große Verlassenheit, Verfrühtheit und Opfergewärtigkeit war in der Welt, ähnlich wie sie es bei ihrem ersten Ausgang vorgefunden hatte, als ihr der Tag erst «an die Knöchel reichte». Unwillkürlich suchten ihre Augen die Stelle, wo hinter entfernteren Hängen, und ihr nicht sichtbar, die ausgedehnten Gebäude des Irrenhauses liegen mußten; und als sie sie gefunden zu haben glaubte, beruhigte sie das, wie es den Liebenden beruhigt, die Richtung zu wissen, in der seine Gedanken die Geliebte finden können. Ihre Gedanken «flogen» aber nicht hin. «Sie hocken jetzt, ganz stumm geworden, wie große schwarze Vögel neben mir in der Sonne», dachte sie, und das damit verbundene groß- und schwermütige Gefühl dauerte an, bis Clarisse von ferne Walters ansichtig wurde. Da hatte sie plötzlich von ihrem Leid genug, versteckte sich hinter den Bäumen, hielt die Hände wie einen Trichter vor den Mund und rief, so laut sie konnte: «Kuckuck!» Dann richtete sie sich auf und lief weiter ins Innere des Waldes hinein, änderte aber alsbald ihre Absicht von neuem und warf sich in der Nähe des Wegs, den Walter benutzen mußte, in die warmen Waldkräuter. Dessen Gesicht kam denn auch im Glauben, unbeobachtet zu sein, daher, drückte nichts aus als die leicht bewegte, unbewußte Achtsamkeit auf die Hindernisse des Wegs und war dadurch sehr sonderbar, ja eigentlich männlich entschlossen anzusehn. Als er ahnungslos nahe war, streckte Clarisse den Arm aus und griff nach seinem Fuß, und das war dieser Augenblick, wo Walter fast gefallen wäre und nun, beinahe unter seinem Auge liegend und den Blick lächelnd zu ihm emporgehoben, seine Frau gewahrte, die unerachtet einiger seiner Befürchtungen nicht im mindesten häßlich aussah.
    Clarisse lachte, Walter setzte sich neben sie auf einen Baumstumpf und trocknete den Hals mit dem Sacktuch. «Ach du ...!» begann er, und dann sagte er erst nach einer Weile: «Ich habe heute eigentlich arbeiten wollen ...!»
    «Wollen!?» spottete Clarisse. Aber es verletzte diesmal nicht. Das Wort schwirrte von ihrer Zunge und mengte sich in das muntere Geschwirre der Waldfliegen, das wie kleine Metallpfeile durch die Sonne und am Ohr vorbei sauste.
    Er erwiderte: «Ich gebe zu, daß ich es in letzter Zeit nicht

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