Gesammelte Werke
zeigen, wie Ihnen gerade einfällt! An der italienischen Grenze spielen es alle unsere Bauern.»
«Es ist wirklich Mora» sagte Clarisse, die das schon auf Reisen gesehen hatte. «Und er hat es auch so gemacht, wie Sie es beschreiben!»
«Also Mora» wiederholte Stumm befriedigt. «Aber wie diese Irrsinnigen nur auf ihre Ideen kommen, möchte ich wissen!» fügte er hinzu, und damit begann erst der anstrengende Teil der Unterredung.
Clarisse setzte sich neben den General auf den Baumstumpf, ein wenig abgerückt von ihm, so daß sie ihn, wenn es sein mußte, «ins Auge fassen» konnte, wobei er jedesmal ein lächerlich schreckliches Gefühl hatte, als ob ihn ein Hirschkäfer zwicke. Sie war bereit, ihm das Gefühlsleben der Irren zu erklären, so wie sie es selbst durch vieles Nachdenken verstand. Einen der wichtigsten Plätze nahm darin die Vorstellung ein – mit der sie alles auf sich bezog –, daß die sogenannten Geisteskranken eine Art genialer Wesen seien, die man verschwinden lasse und um ihr Recht bringe, wogegen sie sich aus irgendwelchen Gründen, die Clarisse noch nicht herausgefunden hatte, nicht wehren könnten. Es war nur natürlich, daß der General dieser Auffassung nicht beipflichten konnte, und wunderte weder sie noch ihn.
«Ich will schon zugeben, Gnädigste, daß so ein Narr einmal etwas erraten kann, was unsereiner nicht weiß» verwahrte er sich. «Derartig stellt man sie sich ja auch vor, sie haben so einen gewissen Nimbus; aber daß sie geradezu mehr denken sollten als wir Gesunde: nein, da darf ich wohl bitten!»
Clarisse beharrte jedoch ernsthaft dabei, daß die geistig Gesunden weniger dächten als die geistig Nichtgesunden. «Sind Sie schon einmal vom Hundertsten ins Tausendste gekommen, General?» fragte sie Stumm, und das mußte er bejahen. «Sind Sie denn auch ein andermal umgekehrt, vom Tausendsten ins Hundertste gekommen?» fragte sie weiter, und das wollte Stumm, nachdem er eine Weile darüber nachgedacht hatte, was es heiße, natürlich noch weniger verneinen, denn es ist ja der Stolz des Mannes, sich sogar bis an das Eine durchzudenken, das man die Wahrheit heißt.
Aber Clarisse folgerte: «Sehen Sie, und das ist nichts als Feigheit, dieses immer ordentliche und überlegte Nachdenken! Die Männer werden es wegen ihrer Feigheit nie zu etwas bringen!»
«Das habe ich noch nie gehört!» versicherte Stumm ablehnend.
Clarisse rückte mit den Augen an ihn heran. «Sicher hat Ihnen schon eine Frau zugeflüstert: Du Gott-Mensch?!»
Stumm erinnerte sich nicht daran, aber das wollte er nicht zugeben, darum vollführte er bloß eine Gebärde, die sowohl heißen konnte: leider nein, als auch: das hört man bis zum Überdruß! Und in Worten antwortete er: «Manche Frauen sind ja sehr exaltiert! Aber wie soll das eigentlich mit unserem Gespräch zusammenhängen? So etwas ist einfach ein übertriebenes Kompliment!»
«Sie erinnern sich an den Maler, dessen Zeichnungen uns der Doktor gezeigt hat?» fragte Clarisse.
«Ja, natürlich. Das war ganz hervorragend, was der gemalt hat!»
«Er war unzufrieden mit Friedenthal, weil dieser von Kunst nichts versteht. ‹Zeig es diesem Herrn!› hat er gesagt und dabei auf mich gewiesen» fuhr Clarisse fort und faßte den General plötzlich wieder ins Auge. «Glauben Sie denn, daß es auch bloß ein Kompliment gewesen sei, daß er mich als einen Mann angesprochen hat?!»
«Das ist eben so eine von diesen Ideen» meinte Stumm. «Darüber habe ich wirklich nicht nachgedacht. Ich möchte vielleicht annehmen, daß es das ist, was man eine Assoziation nennt, oder eine Analogie, oder so etwas. Er hat halt irgendeine Ursache gehabt, Sie für einen Mann zu halten!»
Obwohl Stumm überzeugt war, Clarisse mit diesen letzten Worten etwas erklärt zu haben, wurde er doch durch die Wärme überrascht, mit der sie ausrief: «Ausgezeichnet! Dann brauche ich Ihnen ja bloß zu sagen, daß es die gleiche Ursache hat, wenn in der Liebe von Gott-Mensch geflüstert wird! Die Welt ist nämlich voll Doppelwesen!»
Man darf natürlich nicht glauben, daß es Stumm angenehm war, wenn Clarisse so sprach und dabei aus den zusammengekniffenen Augen einen gespaltenen Blick hervorschoß; er überlegte dann vielmehr, ob es nicht doch richtiger wäre, solche Gespräche nicht in Uniform zu führen und zum nächsten Spaziergang in Zivil zu erscheinen. Aber anderseits hatte der gute Stumm, der Clarisse mit großer Vorsicht, wenn nicht verheimlichtem Schrecken, bewunderte, den
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