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Gesammelte Werke

Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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vorstellte, so empfand er stärker, als wenn er sie in seinen eigenen Armen hielt, und er dachte etwas betroffen zu seiner Entschuldigung: «Wenn ich als Maler ein Gesicht mit den feinsten Biegungen seiner Linien sehen soll, so blicke ich es auch nicht unmittelbar, sondern in einem Spiegel an ...!» (Wie alle Dilettanten legte er besonderen Wert auf diese Kenntnisse.) Es stachelte ihn erst recht, daß er sich solchen Gedanken im Wald, in der gesunden Natur hingebe, und die Hände, die Clarissens Finger hielten, begannen zu zittern. Er mußte etwas sagen, aber das, was er dachte, konnte es nicht sein. Etwas gepreßt scherzte er: «Nun willst du also meine Sünden auf dich nehmen, doch wie wirst du das tun?» Er lächelte; aber Clarisse bemerkte, daß sich ein leichtes Zittern auf seinen Lippen ausbreitete. Das paßte ihr jetzt nicht; obwohl es immer zum Lachen wunderbar ist, dieses Bild, wie ein Mann, einen viel zu großen Ballen unnützer Gedanken mitschleppend, jene kleine Pforte durchschreiten will, zu der es ihn hinzieht. Sie setzte sich jetzt vollends auf, sah Walter mit einem spöttisch ernsten Blick an, schüttelte abermals den Kopf und begann nachdenklich:
    «Glaubst du nicht, daß in der Welt Zeiten der Manie mit Zeiten der Depression wechseln? Gedrängte, aufgeregte, fruchtbare Aufschwungzeiten, die das Neue bringen, mit mutlosen, niedergeschlagenen, schlechten Jahrhunderten oder Jahrzehnten?» Walter sah sie beunruhigt an. «So ist es doch, und ich kann dir bloß nicht die Jahreszahlen sagen» fuhr sie fort und ergänzte: «Der Aufschwung muß nicht schön sein, er muß sogar vieles abschütteln, was immerhin schön sein mag, er kann wie eine Krankheit aussehn: Ich bin überzeugt, daß die Menschheit von Zeit zu Zeit geisteskrank werden muß, um die Synthese zu erneuern und Höheren[?] Gesundheit zu vollziehn!»
    Walter wollte nicht verstehen.
    Clarisse sprach weiter: «Menschen mit deiner und meiner Empfindlichkeit spüren das! Wir leben jetzt in einer Niedergangszeit und darum kannst du auch nicht arbeiten. Noch dazu gibt es sinnliche Jahrhunderte und Jahrhunderte, die sich von der Sinnlichkeit abwenden. Du mußt dich darauf vorbereiten, daß du leiden wirst ...»
    Merkwürdig berührte es Walter, daß Clarisse «Ich und Du» sagte. Das hatte sie lange nicht gesagt.
    «Und natürlich gibt es Übergangszeiten» trug Clarisse nach. «Und Johannes-Menschen, Vorläufer; vielleicht sind wir zwei Vorläufer.».
    Nun antwortete Walter: «Aber nun hast du doch schon deinen Willen gehabt und bist im Irrenhaus gewesen, nun sollten wir eigentlich wieder einer Meinung sein!»
    «Du willst sagen, daß ich nicht wieder hingehn soll?» warf Clarisse ein und lächelte.
    «Geh nicht wieder hin!» bat Walter. Aber er bat ohne Überzeugungskraft, das fühlte er selbst, seine Bitte sollte ihn bloß decken.
    Clarisse gab zur Antwort: «Alle Vorläufen klagen über die Unentschiedenheit des Geistes, denn sie haben noch nicht den ganzen Glauben, aber keiner getraut sich der Unentschiedenheit ein Ende zu bereiten! Auch Meingast traut sich nicht» fügte sie hinzu.
    Walter fragte: «Was müßte man sich denn getrauen?»
    «Verstehst du, ein Volk kann nicht wahnsinnig sein» sagte Clarisse mit noch leiserer Stimme. «Es gibt nur persönlichen Wahnsinn. Wenn alle wahnsinnig sind, sind sie eben die Gesunden. Ist das nicht richtig? Also ist das Volk der Irren das gesundeste Volk; man muß es nur als Volk behandeln, und nicht als Kranke. Und ich sage dir, die Wahnsinnigen denken mehr als die Gesunden, und sie führen ein entschlossenes Leben, wozu wir niemals den Mut haben! Freilich zwingt man sie, es in einer Sündengestalt zu leben, oder sie können noch nicht anders!»
    Walter schluckte und fragte: «Aber was ist Sündengestalt? Du sprichst so oft davon, und ebenso oft von Verwandlung, von Sünde-auf-sich-nehmen, von Doppelwesen und vielem anderen, das ich halb verstehe und halb nicht verstehe!»
    Clarisse lächelte, und es war ihr verlegenes und etwas aufgeregtes Lächeln. «Das läßt sich nicht mit zwei Worten sagen» erwiderte sie. «Die Kranken sind eben Doppelwesen.»
    «Nun ja, das hast du schon gesagt. Aber was bedeutet es denn?» Walter bohrte, er wollte wissen, was sie empfände; ohne Rücksicht auf sie.
    Clarisse dachte nach. «Apollo ist in manchen Darstellungen Mann und Frau. Anderseits war der Apollo mit dem Pfeil nicht der Apollo mit der Leier, und die Diana von Ephesus war nicht die von Athen. Die griechischen

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