Gesammelte Werke
stehen mit aufgestemmten Beinen da, aber eine Stimme flüstert hinter ihnen: Unsinn! Noch nie hat die Stunde geschlagen, ist die Zeit gekommen!
Es scheint Eigensinn zu sein, aber es läßt mich erst verstehen, was ich sehe, wenn ich dazu anmerke: Dieser Gegensatz zwischen der Selbstinbrunst, die allem von uns Geschaffenen in seiner Pracht die Brust vorwölbt, und dem heimlichen Zug des Verlassen- und Aufgegebenwerdens, der gleichfalls mit der ersten Minute beginnt, stimmt ganz und gar damit überein, daß ich alles bloß eine Meinung nenne. Wir erkennen uns dadurch in einer eigentümlichen Lage. Denn jede Meinung zeigt die gleiche doppelte Eigentümlichkeit: sie macht, so lange sie neu ist, unduldsam gegen jede, die ihr im Wege steht (wenn rote Sonnenschirme an der Zeit sind, sind blaue ‹unmöglich› – etwas Ähnliches gilt aber auch von unseren Überzeugungen); doch ist es die zweite Eigentümlichkeit jeder Meinung, daß sie trotzdem ganz von selbst und ebenso sicher mit der Zeit preisgegeben wird, wenn sie nicht mehr neu ist. Ich habe einmal gesagt, die Wirklichkeit schaffe sich selbst ab. Es ließe sich nun auch so ausdrücken: Wenn der Mensch hauptsächlich nur Meinungen kundtut, so tut er sich niemals ganz und dauernd kund; wenn er sich aber niemals vollständig ausdrücken kann, so wird er es auf die verschiedenste Weise versuchen, und damit hat er dann eine Geschichte. Nur aus einer Schwäche hat er sie also, scheint mir; obwohl die Historiker begreiflicherweise die Fähigkeit, Geschichte zu machen, für eine besondere Auszeichnung halten!»
Ulrich schien hier etwas abgekommen zu sein, fuhr aber in dieser Richtung weiter fort: «Und dies ist anscheinend der Grund, warum ich das heute vormerken muß: Geschichte wird, Geschehen wird, sogar Kunst wird – aus einem Mangel an Glück. Ein solcher liegt aber nicht an den Umständen, also daß sie uns das Glück nicht erreichen ließen, sondern an unserem Gefühl. Unser Gefühl ist der Kreuzträger der Doppeleigenschaft: es duldet kein anderes neben sich und dauert selbst nicht aus. Dadurch erhält alles, was mit ihm verbunden ist, das Ansehen, für die Ewigkeit zu gelten, und alle haben wir trotzdem die Bestrebung, die Schöpfungen unseres Gefühls zu verlassen und unsere in ihnen ausgedrückte Meinung zu ändern. Denn ein Gefühl verändert sich in dem Augenblick, wo es dauert; es hat keine Dauer und Identität; es muß neu vollzogen werden. Gefühle sind nicht nur veränderlich und unbeständig – wofür sie wohl gelten –, sondern sie würden das erst recht in dem Augenblick, wo sie es nicht wären. Sie werden unecht, wenn sie dauern. Sie müssen immer von neuem entstehen, wenn sie anhalten sollen, und auch dabei werden sie andere. Ein Zorn, der fünf Tage anhielte, wäre kein Zorn mehr, sondern eine Geistesstörung; er verwandelt sich entweder in Verzeihung oder in Rachebereitschaft, und etwas Ähnliches vollzieht sich mit allen Gefühlen.
Unser Gefühl sucht an dem, was es gestaltet, seinen Halt und findet ihn immer für eine Weile. Aber Agathe und ich fühlen an unserer Umgebung die eingeschlossene Unheimlichkeit, das Auseinanderstreben des beisammen Befindlichen, den Widerruf im Ruf, die Wanderschaft der vermeinten festen Wände; wir sehen und hören das plötzlich. Es erscheint uns als Abenteuer und verdächtige Gesellschaft, ‹in eine Zeit› geraten zu sein. Wir befinden uns im Zauberwald. Und obwohl wir ‹unser› Gefühl, dieses andersartige, noch gar nicht übersehen, ja kaum kennen, leiden wir Angst um dieses Gefühl und möchten es festhalten. Wie aber hält man ein Gefühl fest? Wie könnte man auf der höchsten Stufe der Glückseligkeit verweilen, falls sich überhaupt zu ihr gelangen läßt? Im Grunde beschäftigt uns nur diese Frage. Wir ahnen ein Gefühl, das der Hinfälligkeit der übrigen entrückt ist. Es steht wie ein wunderbarer regloser Schatten im Fließenden vor uns. Aber müßte es nicht die Welt auf ihrem Wege anhalten, um bestehen zu können? Ich komme zu dem Schluß, daß es kein Gefühl sein kann in dem gleichen Sinn wie die übrigen.»
Und plötzlich schloß Ulrich: «So komme ich auch auf die Frage zurück: Ist Liebe ein Gefühl? Ich glaube nein. Liebe ist eine Ekstase. Und Gott selbst müßte sich, um die Welt dauernd lieben zu können, und mit der Liebe des Gott-Künstlers auch das schon Geschehene zu umfassen, dauernd in Ekstase befinden. Nur als ein solcher wäre er zu denken –»
Hier hatte er diese
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