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Gesammelte Werke

Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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hieße: die fertige Welt Sünde! Die mögliche: Liebe!
    Andere verdächtige Frage: Die Philosophen stellen sich Gott als Philosophen vor, als den reinen Geist; sollte es dann nicht den Offizieren naheliegen, sich ihn als Offizier vorzustellen? Aber ich, Mathematiker, stelle mir das Allwesen als Liebe vor? Wie bin ich eigentlich dahin gekommen?
    Und wie sollten wir denn auch gleich an einem der intimsten Erlebnisse des Ewigen Künstlers teilhaben!»
    Das Blatt brach ab. Aber danach bedeckte sich Agathes Gesicht von neuem mit Röte, als sie, ohne die Augen zu heben, das nächste nahm und weiterlas:
    «Wir hatten in letzter Zeit oft ein merkwürdiges Erlebnis, Agathe und ich! Wenn wir unsere Ausgänge in die Stadt unternahmen. In dem besonders schönen Wetter sieht die Welt sehr fröhlich und zusammengehörig aus, so daß man gar nicht dessen acht hat, wie verschieden sie überall nach Alter und Wesen zusammengesetzt ist. Alles steht und läuft mit größter Natürlichkeit. Und doch liegt etwas, das merkwürdig in die Öde geht, etwas wie ein verfehlter Liebesantrag, oder eine ähnliche Bloßstellung, in einem solchen scheinbar unwiderleglichen Gegenwartszustand, sobald man nicht bedingungslos an ihm teilnimmt.
    Wir befinden uns unterwegs durch die veilchenblauen Gassen der Stadt, die oben, wo sie sich dem Licht öffnen, wie Feuer brennen. Oder wir treten aus dem plastischen Blau auf einen von der Sonne frei übergossenen Platz hinaus; dann stehen seine Häuser zwar zurückgenommen und gleichsam an die Wand gestellt da, aber nicht weniger ausdrücklich, und so, als hätte sie jemand mit den feinen Linien eines Grabstichels, die alles überdeutlich machen, in eine farbige Helligkeit geritzt. Und wir wissen in einem solchen Augenblick nicht, ob uns alle diese von sich selbst erfüllte Schönheit aufs tiefste erregt oder überhaupt nichts angeht. Beides ist der Fall. Sie steht auf einer messerscharfen Schneide zwischen Lust und Trauer.
    Aber hat der Anblick der Schönheit nicht überhaupt diese Wirkung, daß er die Trauer des gewöhnlichen Lebens aufhellt und seine Lustigkeit verdunkelt? Es scheint, daß die Schönheit einer Welt angehört, in deren Tiefe es weder Trauer noch Lustigkeit gibt. Vielleicht gibt es in dieser Welt sogar die Schönheit selbst nicht, sondern irgendeinen fast unbeschreiblichen heiteren Ernst, und ihr Name entsteht erst durch die Brechung seines namenlosen Glanzes in der gewöhnlichen Atmosphäre. Diese Welt suchen wir beide, Agathe und ich, ohne uns noch zu entscheiden; wir bewegen uns an ihren Grenzen entlang und kosten die tiefe Ausstrahlung mit Vorsicht dort, wo sie noch mit den kräftigen Lichtern des Alltags vermengt und kaum zu unterscheiden ist!»
    Es machte den Eindruck, daß Ulrich durch seinen Einfall, von einem Ewigen Künstler zu sprechen, darauf gebracht worden war, die Frage nach der Schönheit in seine Betrachtung einzubeziehn, zumal da sie auch für ihren Teil die zwischen den Geschwistern entstandene Überempfindlichkeit ausdrückte. Zugleich hatte er aber die Denkart gewechselt. Er ging in dieser neuen Folge seiner Aufzeichnungen nicht mehr von der im Fluchtpunkt seiner Erlebnisse herrschenden Gedankendämmerung aus, sondern vom Vordergrund, der klarer war, aber an einigen Stellen, die er sich anmerkte, eigentlich überklar, und nun wieder für den Hintergrund beinahe durchlässig.
    So fuhr Ulrich denn fort. «Ich habe zu Agathe gesagt: ‹Wahrscheinlich ist Schönheit nichts anderes als Geliebtwordensein.› Denn etwas lieben und es verschönen ist ein und dasselbe. Und seine Liebe zu verbreiten und andere ihre Schönheit finden zu machen ist auch ein und dasselbe. Darum kann alles schön werden, und alles Schöne wieder häßlich werden; und es wird beide Male nicht minder von uns abhängen, als uns von außen bezwingen, weil die Liebe keine Kausalität hat und keine Rechtsfolge kennt. Wieviel ich davon gesagt habe, dessen bin ich nicht sicher, aber es ist damit auch dieser andere Eindruck erklärt, den wir auf unseren Ausgängen so leicht empfangen: Wir schauen uns die Menschen an und wollen an der Freude, die sie im Gesicht tragen, teilhaben, ja wir fühlen uns fast gezwungen, an ihr teilzunehmen; aber es geht davon doch auch ein Unbehagen und beinahe eine unheimliche Abstoßung aus. Auch von den Häusern, Kleidern und allem, was sie für sich geschaffen haben, geht das aus. Als ich mir die Erklärung überlegte, bin ich auf einen weiteren Gedankenkreis gebracht worden und

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