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Gesammelte Werke

Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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durch ihn wieder zu meinen ersten, scheinbar so phantastischen Notizen zurück.
    Eine Stadt wie die unsere, schön und alt, mit ihrem bauherrlichen Gepräge, das im Lauf der Zeiten aus wechselndem Geschmack hervorgegangen ist, bedeutet ein einziges großes Zeugnis der Fähigkeit zu lieben und der Unfähigkeit, es dauernd zu tun. Die stolze Folge ihrer Bauten stellt nicht nur eine große Geschichte dar, sondern auch einen dauernden Wechsel in der Richtung der Gesinnung. Sie ist, auf diese Weise betrachtet, eine zur Steinkette gewordene Wankelmütigkeit, die sich alle Vierteljahrhunderte auf eine andere Weise vermessen hat, für ewige Zeiten recht zu behalten. Ihre stumme Beredsamkeit ist die toter Lippen, und je zauberhafter sie verführt, umso heftiger muß das im tiefsten Augenblick des Gefallens und der Enteignung blinde Abwehr und Schreck hervorrufen.
    ‹Es ist lächerlich und verführerisch› hat mir Agathe darauf erwidert. ‹Dann müssen also die Schwalbenschwanzröcke dieser Bummler oder die sonderbaren Kappen, die von den Offizieren wie Töpfe auf dem Kopf getragen werden, schön sein, denn sie werden von ihren Besitzern mit großer Entschiedenheit geliebt und zur Liebe ausgestellt und erfreuen sich der Gunst der Frauen!› – Wir haben auch ein Spiel daraus gemacht. In einer Art lustiger Übelgelauntheit haben wir es ausgekostet und haben uns eine Weile auf Schritt und Tritt lebenswidersetzlich gefragt: Was will zum Beispiel jenes Rot dort auf dem Kleid, daß es so rot ist? Oder was tut dieses Blau und Gelb und Weiß auf den Kragen der Uniformen eigentlich? Und warum sind, in Gottes Namen gefragt, die Sonnenschirme der Damen rund, und nicht rechteckig? Wir haben uns gefragt, was der griechische Giebel des Parlaments mit seinen gespreizten Schenkeln wolle. ‹Spagatmachen›, wie es nur eine Tänzerin und ein Reißzirkel zustandebringen, oder klassische Schönheit verbreiten? Wenn man sich dergestalt in einen Vorzustand zurückversetzt, wo man ungerührt bleibt von den Empfindungen, und den Dingen nicht auf die Gefühle eingeht, die sie selbstgefällig erwarten, so zerstört man Treu und Glauben des Daseins. Es ist ähnlich, wie wenn du jemand, ohne seinen Appetit zu teilen, zusiehst, wie er stumm ißt: Du gewahrst plötzlich nur Schlingbewegungen, die keineswegs beneidenswert erscheinen.
    Ich nenne das: Sich Der Meinung Des Lebens Verschließen. – Um es näher auszuführen, beginne ich wohl damit, daß wir ohne Zweifel im Leben das Feste so inständig suchen wie ein Landtier, das ins Wasser gefallen ist. Wir überschätzen darum sowohl die Bedeutung des Wissens, des Rechts und der Vernunft als auch die Notwendigkeit des Zwangs und der Gewalt. Vielleicht sollte ich nicht gerade überschätzen sagen; aber jedenfalls beruhen weitaus die meisten Äußerungen unseres Lebens auf geistiger Unsicherheit. Glaube, Vermutung, Annahme, Ahnung, Wunsch, Zweifel, Neigung, Forderung, Vorurteil, Überredung, Beispielnahme, persönliche Ansichten und andere Zustände der Halbgewißheit herrschen unter ihnen vor. Und weil das Meinen auf dieser Skala ungefähr in der Mitte zwischen Begründung und Willkür liegt, nehme ich seinen Namen für das Ganze. Ist das, was wir in Worten ausdrücken, wenn sie auch noch so großartig sind, meistens nur eine Meinung, so ist es das, was wir ohne Worte ausdrücken, immer.
    Ich sage also: Unsere Wirklichkeit ist, soweit sie von uns abhängt, zum größten Teil nur eine Meinungsäußerung, obwohl wir ihr wunder was für eine Gewichtigkeit andichten. Wir mögen unserem Leben im Stein der Häuser einen bestimmten Ausdruck geben, es geschieht immer um einer Meinung willen. Wir mögen töten oder uns opfern, so handeln wir nur auf Grund einer Vermutung. Ich möchte beinahe sagen, daß alle unsere Leidenschaften nur Vermutungen sind; wir irren uns sehr oft in ihnen; wir können ihnen bloß aus Sehnsucht nach Entschiedenheit verfallen! Auch daß wir etwas aus ‹freiem› Willen tun, setzt eigentlich voraus, daß es bloß auf Veranlassung einer Meinung geschieht. Seit einiger Zeit sind Agathe und ich empfindlich für ein gewisses Geistertreiben im Wirklichen. Jede Einzelheit des Ausdrucks unserer Umgebung, ‹spricht uns an›. Sie meint etwas. Sie zeigt, daß sie in einer keineswegs flüchtigen Absicht entstanden ist. Sie ist zwar nur eine Meinung, aber sie tritt wie eine Überzeugung auf. Sie ist bloß ein Einfall, tut aber, als wäre sie unerschütterlicher Wille. Zeiten und Jahrhunderte

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