Gesammelte Werke
fügte bescheidener hinzu: «Nur das nicht, was danach gekommen ist.» Es war nämlich trotz aller Gegenmaßnahmen etwas von dem leidigen Zwischenfall in die Zeitungen durchgesickert und bei den Ausschreitungen wieder zum Vorschein gekommen, deren Opfer dann Graf Leinsdorf wurde. Graf Leinsdorf aber war, wie es Stumm schon in Agathes Gegenwart angedeutet hatte und jetzt ausführte, auf der Rückreise von seinen böhmischen Gütern in einer Stadt, wo er den Eilzug erreichen wollte, mit dem Wagen zwischen die zwei Fronten eines politischen Zusammenstoßes geraten, und Stumm beschrieb nun das Weitere folgendermaßen: «Sie haben ihre Unruhen natürlich wegen etwas ganz anderem veranstaltet gehabt; wegen irgend einer Verordnung der Regierung über den Gebrauch der Landessprachen in den Ämtern, oder wegen einer andern von diesen Sachen, über die man sich schon so oft geärgert hat, daß man kaum noch kann. Und so sind auch bloß auf der einen Seite der Straßen die deutschsprachigen Stadtbewohner gestanden und haben zu den andern hinübergeschrien: ‹Pfui!›, und auf der andern Seite sind die anderssprachigen gestanden und haben zu den Deutschen hinübergeschrien: ‹Schande!›; und es wäre weiter auch nichts geschehn. Aber der Leinsdorf ist als Friedensstifter bekannt; er will, daß die in der Monarchie vereinigten Volksstämme ein Staatsvolk bilden, und das sagt er auch immer. Und du weißt doch auch, wenn ich hier so sagen darf, wo es niemand hört, daß zwei Hunde einander oft unentschlossen anknurren, daß sie aber in dem Augenblick, wo man sie beruhigen will, aufeinander losfahren. Wie der Leinsdorf erkannt worden ist, hat das also den Gefühlen einen ungeheuren Aufschwung gegeben; und sie haben zuerst im Sprechchor auf zwei Sprachen angefangen zu fragen: ‹Was ist mit der Enquete zur Feststellung der Wünsche der beteiligten Kreise der Bevölkerung, Herr Graf?› und dann haben sie geschrien: ‹Nach außen heuchelst du Frieden, und im eigenen Haus bist du ein Mörder!› Erinnerst du dich an die Geschichte, die man ihm nachsagt, daß einmal, vor hundert Jahren, als er noch jünger gewesen ist, eine Kokotte in der Nacht gestorben sein soll, wo sie bei ihm war? Auf das haben sie nämlich damit auch anspielen wollen, sagt man jetzt. Und das alles ist bloß wegen diesem dummen Beschluß geschehn, daß man sich für seine eigenen Ideen töten lassen soll, aber ja nicht für fremde; wegen einem Beschluß also, den es gar nicht gibt, weil ich seine Protokollierung verhindert hab›! Aber anscheinend hat er sich herumgesprochen, und weil wir ihn nicht zugelassen haben, verdächtigt man jetzt uns alle, daß wir Volksmörder sein wollen! So etwas ist vollkommen unvernünftig, aber es ist schließlich logisch!»
Ulrich fiel diese Unterscheidung auf.
Der General zuckte die Achseln. «Die geht auf den Kriegsminister selbst zurück. Nämlich schon wie er mich nach dem Krakeel bei Tuzzis hat zu sich rufen lassen, hat er zu mir gesagt: ‹Lieber Stumm, du hättest es nicht so weit kommen lassen dürfen!› Ich habe ihm aber darauf, was mir nur einfiel, vom Zeitgeist erwidert und davon, daß der Zeitgeist eine Äußerung und anderseits auch wieder einen Halt braucht: mit einem Wort, ich habe ihm zu beweisen getrachtet, wie wichtig es ist, eine Zeitidee zu suchen und sich für sie zu begeistern, selbst wenn es vorderhand noch zwei Ideen sind, die einander widersprechen und sich gegenseitig in Wut treiben, so daß man unmöglich in jedem Augenblick wissen kann, was daraus entstehen wird. Doch er hat mir erwidert: ‹Lieber Stumm, du bist ein Philosoph! Ein General aber muß wissen! Wenn du eine Brigade in ein Rencontre-Gefecht führst, vertraut dir der Feind auch nicht an, was er vorhat und wie stark er ist!› Und danach hat er mir ein für allemal die größte Zurückhaltung anbefohlen.» – Stumm unterbrach seine Erzählung nur, um einen neuen Vorrat an Atem zu schöpfen, und fuhr fort: «Darum habe ich mich, wie dann auch noch die Geschichte mit dem Leinsdorf dazugekommen ist, gleich selbst beim Minister melden lassen; denn ich habe vorhergesehen, daß man wieder der Parallelaktion schuld geben wird, und habe dem die Spitze abbrechen wollen. ‹Exzellenz!› habe ich begonnen. ‹Es ist unvernünftig gewesen, was das Volk dort getan hat, aber das hätte man wissen können, denn es ist immer so. Ich rechne darum in einem solchen Fall nicht mit der Vernunft, sondern mit Leidenschaften, Einbildungen, Schlagworten und
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