Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Gesammelte Werke

Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
Vom Netzwerk:
allen Stücken.»
    «Ist es dann verwunderlich, wenn hinter den physiologischen Erklärungen unseres Gehabens sehr oft zu guter Letzt doch wieder nichts anderes zum Vorschein kommt als die vertraute Vorstellung, daß wir es von Kettenreflexen und Sekreten und Geheimnissen des Körpers bloß darum steuern ließen, weil wir die Lust suchten und die Unlust mieden? Und nicht nur in der Seelenkunde, auch in der allgemeinen Lebenslehre, ja in der Volkswirtschaftslehre, kurz überall, wo man ein Verhalten begründen möchte, spielen Lust und Unlust noch immer diese Rolle, also zwei so dürftige Gefühle, daß sich etwas Einfacheres kaum noch denken läßt. Der weitaus vielfältigere Gedanke der Triebbefriedigung wäre wohl imstande, das Bild bunter zu gestalten, aber die alte Gewohnheit ist so stark, daß man mitunter sogar lesen kann, die Triebe strebten nach Befriedigung, weil diese Erfüllung eben Lust sei, was ungefähr ebensoviel ist, wie den Auspuff für den treibenden Teil an einem Motor zu halten!»
    So war Ulrich am Ende denn auch auf die Frage der Einfachheit zu sprechen gekommen, obgleich es wohl eine Abschweifung war.
    «Woran liegt der Reiz, die besondere Versuchung für den Geist, daß er glaubt, die Welt der Gefühle auf Lust und Unlust oder auf die einfachsten physiologischen Vorgänge zurückführen zu müssen? Warum billigt er einem psychologischen Etwas umso mehr Erklärungswert zu, je einfacher es ist? Warum einem physiologisch-chemischen noch mehr als einem psychologischen; und schließlich der Zurückführung auf die Bewegung physikalischer Atome den allermeisten? Es geschieht selten aus Vernunftgründen, eher halbbewußt, aber auf irgendeine Weise ist dieses Vorurteil gewöhnlich wirksam. Worauf beruht also dieser Glaube, daß das Geheimnis der Natur einfach sein müsse?
    Zuerst ist da zweierlei zu unterscheiden. Die Zerlegung des Zusammengesetzten in das Einfache und Kleine ist im Alltag eine durch nützliche Erfahrung gerechtfertigte Gewohnheit; dieser lehrt uns tanzen, indem er uns die Schritte beibringt, und er lehrt uns, daß man ein Ding besser versteht, nachdem man es zerlegt und wieder zusammengeschraubt hat. Die Wissenschaft bedient sich dagegen der Vereinfachung eigentlich nur als einer Zwischenstufe; auch was als Ausnahme erscheint, ordnet sich dem unter. Denn am Ende führt sie nicht das Zusammengesetzte auf das Einfache zurück, sondern das Besondere des einzelnen Falls auf die allgemein gültigen Gesetze, die ihr Ziel sind, und die sind nicht sowohl einfach als vielmehr allgemein und zusammenfassend. Sie vereinfachen die Mannigfaltigkeit des Geschehens erst durch ihre Anwendung, also in zweiter Hand.
    Und so heben sich überall im Leben zwei Einfachheiten von einander ab: was es zum voraus ist, und was es erst nachher wird, sind in verschiedener Bedeutung einfach. Was es zum voraus ist, mag es was immer sein, ist meistens einfach aus Mangel an Inhalt und Form, und darum gemeinhin auch einfältig, oder es ist noch nicht durchschaut. Was aber erst einfach wird, mag es ein Gedanke oder ein Handgriff oder gar der Wille sein, hat Teil und hat in sich von der Gewalt der Wahrheit und des Könnens, die das verwirrt Vielfältige bezwingt. Diese beiden Einfachheiten werden gewöhnlich miteinander verwechselt: es geschieht in der frommen Rede von der Einfalt und Unschuld der Natur; es geschieht in dem Glauben, daß eine einfache Sittlichkeit unter allen Umständen dem Ewigen näher stehe als eine verwickelte; es geschieht auch in der Verwechslung des rohen Willens mit dem starken.»
    Als Agathe so weit gelesen hatte, glaubte sie, auf dem Kies des Gartens Ulrichs zurückkehrende Schritte zu hören, und schob alle Blätter eilig wieder in die Lade zurück. Als sie sich aber davon überzeugt hatte, daß ihr Gehör sie getäuscht habe, und gewiß geworden war, daß ihr Bruder noch im Garten verweile, zog sie die Blätter wieder hervor und las noch ein Stück des Folgenden weiter.
    [◁]
72
    Die Referate D und L
    Als General Stumm von Bordwehr im Garten darzulegen begonnen hatte, warum er glaube, über eine Idee gestolpert zu sein, zeigte sich alsbald, daß er mit der Freude erzähle, die ein Stoff bereitet, der gut durchdacht ist. Den Anfang habe es gemacht, berichtete er, daß er wegen des unbesonnenen Beschlusses, der den Kriegsminister gezwungen hätte, Diotimas Haus fluchtartig zu verlassen, die erwartete Nase bekommen habe. «Ich habe ja alles vorausgesagt!» beteuerte Stumm selbstbewußt und

Weitere Kostenlose Bücher