Gesammelte Werke
will! Auch unser fühlendes Verhalten hängt also, wenn es der Wirklichkeit angepaßt ist, nicht nur von den Gefühlen ab, die uns gerade bewegen, oder von ihren triebhaften Untergründen, sondern zugleich von dem dauernden und wiederkehrenden Gefühlszustand, der das Verstehen der Wirklichkeit gewährleistet und gewöhnlich so wenig sichtbar wird wie die Luft, in der wir atmen.
Diese persönliche Entdeckung eines gewöhnlich weniger berücksichtigten Zusammenhangs hatte Ulrich zu weiterem Nachdenken über das Verhältnis des Gefühls zur Wirklichkeit verführt. Man muß hier zwischen den Sinneswahrnehmungen und den Gefühlen einen Unterschied machen. Auch jene «täuschen», und bekanntlich ist weder das sinnliche Bild der Welt, das sie uns darstellen, die Wirklichkeit selbst, noch ist das gedankliche Bild, das wir aus ihm erschließen, unabhängig von der menschlichen Geistesart, wenngleich es unabhängig von der persönlichen ist. Aber obwohl keinerlei greifbare Ähnlichkeit zwischen der Wirklichkeit und selbst dem genauesten Vorstellungsbild besteht, das wir von ihr besitzen, ja eher ein unausfüllbarer Abgrund an Unähnlichkeit, und obwohl wir das Original nie zu Gesicht bekommen, vermögen wir doch auf eine verwickelte Weise zu entscheiden, ob und unter welchen Bedingungen dieses Bild richtig sei. Anders bei den Gefühlen; denn diese geben, um in der gleichen Ausdrucksweise zu bleiben, auch schon das Bild falsch, und doch erfüllen sie damit ebensogut die Aufgabe, uns in Übereinstimmung mit der Wirklichkeit zu halten, bloß tun sie es auf eine andere Weise. Vielleicht hatte diese Forderung, in Übereinstimmung mit der Wirklichkeit zu bleiben, eine besondere Anziehungskraft auf Ulrich, aber sie bedeutet gleichwohl schlechthin auch das Merkmal alles dessen, was sich im Leben behauptet; und darum leitet sich von ihr eine vorzügliche abkürzende Formel und Probe dessen her, ob das Bild, das uns Wahrnehmung und Verstand von etwas geben, richtig und wahr sei, wenngleich diese Formel nicht alles erschöpft: wir verlangen, daß die Folgen aus dem geistigen Bild, das wir uns von der Wirklichkeit gemacht haben, mit dem gedanklichen Bild der Folgen übereinstimmen, die in Wirklichkeit eintreten, und nur dann halten wir ein Verstandesbild für richtig. Im Gegensatz dazu ließe sich von den Gefühlen sagen, daß sie die Aufgabe übernommen haben, uns dauernd in Irrtümern zu erhalten, die einander dauernd aufheben.
Und doch ist das nur die Folge einer Arbeitsteilung, bei der sich das von den Sinneswerkzeugen bediente Empfinden und die von ihm recht beeinflußten Denkvorgänge entwickelt, und kurz gesagt, zu Erkenntnisquellen entwickelt haben, während dem Bereich der Gefühle die Rolle des mehr oder minder blinden Antreibers übriggeblieben ist; denn in der Urzeit waren sowohl unsere Gefühle als auch unsere Sinnesempfindungen in der gleichen Wurzel vereinigt, nämlich in einem das ganze Geschöpf beteiligenden Verhalten, wenn es ein Reiz getroffen hatte. Die später hinzugekommene Arbeitsteilung läßt sich noch heute zutreffend mit den Worten ausdrücken, daß die Gefühle das ohne Erkenntnis tun, was wir mit Erkenntnis täten, wenn wir ohne einen anderen Antrieb als Erkenntnis überhaupt etwas täten! Könnte man lediglich ein Bild des fühlenden Verhaltens entwerfen, so müßte es dieses sein: wir nehmen von den Gefühlen an, daß sie das richtige Bild der Welt verfärben und verzerren und es falsch darstellen. Sowohl die Wissenschaft als auch das alltägliche Verhalten zählen das Gefühl zu den «Subjektivitäten»; sie setzen voraus, daß es bloß «die Welt, die wir sehen», verändere, denn sie rechnen damit, daß sich ein Gefühl nach einiger Zeit verflüchtigt und daß die von ihm am Anblick der Welt bewirkten Veränderungen vergehen, so daß «die Wirklichkeit» sich über kurz oder lang wieder «durchsetzt».
Es war Ulrich recht bemerkenswert vorgekommen, daß dieser teilweis gelähmte Gefühlszustand, der dem wissenschaftlichen Erfahren und dem sachlichen Verhalten zugrunde liegt, ein Seiten- und Gegenstück daran hat, daß sich die Aufhebung des Gefühls auch als ein Kennzeichen des zeitlichen Lebens wiederfindet. Denn der Einfluß unserer Gefühle auf das, was als wahr und notwendig gelten bleibt, auf die sachlichen Vorstellungen unseres Geistes, hebt sich sowohl über die Länge der Zeit als auch über die Breite des nebeneinander Bestehenden ungefähr zu Null auf; und der Einfluß des Gefühls auf
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