Gesammelte Werke
Befriedigung feststellte. Sein Anzug hatte zu schmale Schultern und zu kurze Ärmel, an den Ellbogen und Knien bildete er Bäuche. Sein Körper war unterernährt und überanstrengt, er war niemals gut bewegt worden; zum erstenmal dämmerte Schmeißer etwas auf: er trat abends vor einen kleinen Spiegel, den er mit vieler Mühe so aufstellte, daß er seine ganze Figur sehen konnte, und betrachtete sich nackt. Er war häßlich. Der Traum vom Sonnenbad, vom Herausschlüpfen aus der kapitalistischen Kleiderhierarchie in eine Welt der natürlichen Schönheit war erschüttert. Agathe aber schwebte wie eine Wolke die Treppen hinab; eine schwere Wolke, aber auch solche sind wolkenleicht. Die kleinen Geräusche des bewegten Kleides zuckten wie winzige Blitze darin. Das Parfüm war ganz anders als das der weiblichen kleinen Leute, mit denen er zu tun hatte, es war überhaupt nichts Hinzugetanes, sondern eine Ausstrahlung.
In einem fürstlichen Park stand eine Fontäne. Schlank bewegt, wiegend im Wind fiel ihr Strahl in ein Marmorbecken. Unendlichkeit des Auges und des Ohrs. Der kleine Proletarierknabe hatte damals die Fingerspitze auf den geglätteten Rand gelegt und war rund um den Kreis gegangen, marmorn gleitend, immer wieder, ohne satt werden zu können, wie Tantalus.
Schmeißer erklärte heftig, seine Liebe sei der Sozialismus. Es war nicht wahr. Seit er denken konnte, lebte er für ihn. Wenn er hungerte oder gedemütigt wurde, wenn er den Mund spülte oder einen abgerissenen Knopf suchte; es war Etappe auf dem Weg einem Ziel zu. Es tat ihm keinen Abbruch, daß er das Erreichen dieses Ziels kaum erleben würde; vielleicht vermochte er auch nicht, es sich genau vorzustellen: aber alles, was er tat, diente einem Zweck und hatte das feste Gleichgewicht einer Bewegung, welche nicht schwankt. Auf der andern Seite der Welt stehend als Professor Lindner, glich er ihm dadurch, daß Gott für diesen ein Ziel war, dem man respektvoll ausweicht, um sich mit den kleinen, aber sicheren Zwischenzielen zu begnügen, welche man dadurch gewinnt, daß man sich so benimmt, wie einer, welcher von den anderen Menschen verlangt, daß sie sich benehmen, wie wenn man den Möglichkeiten zu begegnen sicher ist.
Seit Schmeißer aber Agathe sah, fiel seine Sicherheit der Zerrüttung anheim. Er kämpfte gegen die Empfindungen, welche diese Frau in ihm hervorrief, welche er wegen ihrer großbürgerlichen Herkunft gerne verachtet hätte. Er sagte ihr, daß die Überschätzung der Liebe ein Stigma der kapitalistischen Welt sei. Aber wenn er sich vergaß, nachsann, was diese junge Frau, die, wie er wußte, ihren Mann verlassen hatte, hier tun möge, und ohne es zu merken, von seiner Phantasie an einen fernen Punkt geführt wurde, wo Agathe ihre Arme um die Hüften des cand. ing. Schmeißer schlang, war ihm zumute, wie einem Wesen, das bisher nur in einer Fläche gelebt hat und zum erstenmal das Geheimnis des Raums kennenlernt. Professor Lindner würde gesagt haben, dies sei der gleiche Unterschied, wie wenn man immer für Gott gelebt habe, aber plötzlich in Gott zu leben anfange ––– wenn Professor Lindner solche Gedanken sich gestattet hätte.
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81
Warum die Menschen nicht gut, schön und wahrhaftig sind, sondern es lieber sein wollen
[Entwurf]
Diesen jungen Mann hatte Ulrich für den General ausersehen und schlug ihm vor, mit dem General gemeinsam Meingast zu besuchen, denn Schmeißer wußte von diesem Propheten, und wenn es auch ein falscher war, so war es Schmeißer doch nichts Neues, auch die Versammlung von Gegnern zu besuchen; von seinem Freund Stumm aber hatte Ulrich richtig erraten, daß er ohnehin zuweilen heimlich bei Clarisse Eindrücke sammelte und durch sie auch den Meister kennengelernt hatte, von dem er keinen geringen Eindruck empfing. Als Ulrich seinen Plan Agathe mitteilte, wollte sie jedoch nichts davon wissen.
Ulrich begann zu scherzen. «Ich wette, daß dich dieser Schmeißer heimlich liebt,» behauptete er «und von Lindner ist es ja kein Geheimnis. Beide sind Für-Männer. Und auch Meingast ist ein Für-Mann. Am Ende eroberst du ihn auch.»
Agathe wollte nun natürlich (doch) wissen, was Für-Männer seien.
«Lindner ist ein guter Mensch, nicht wahr?» fragte Ulrich.
Agathe bejahte es, obwohl sie diese Überzeugung längst nicht mehr so begeisterte wie zu Anfang.
«Aber er lebt mehr für die Religion als im religiösen Zustand?»
Das bestritt nun Agathe vollends nicht mehr.
«Eben das ist ein Für-Mann,»
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