Gesammelte Werke
verkündete er dann oder etwas Ähnliches, denn er haßte nichts so sehr wie die vernunftwidrige Form der Güte, die an der Liebenswürdigkeit ist; ja die Form überhaupt, selbst die der Schönheit, war ihm verdächtig. Niemals nahm er darum auch eine der Einladungen Ulrichs an und ließ sich höchstens mit Tee und Zigaretten bewirten wie in russischen Romanen. Ulrich liebte es, ihn zu reizen, obwohl diese Gespräche völlig sinnlos waren. Er fühlte keine Teilnahme an der Politik. Seit dem Freiheitsjahr Achtundvierzig und der Gründung des Deutschen Reichs, Ereignissen, deren sich nur noch eine Minderheit persönlich erinnerte, erschien wohl der Mehrzahl der Gebildeten Politik eher als ein Atavismus denn als eine Hauptsache. Fast an nichts war zu erkennen, daß sich hinter diesen gewohnheitsmäßig weitergehenden äußeren Vorgängen die geistigen schon auf jene Entstaltung vorbereiteten, auf jene Untergangsbereitschaft und aus Überdruß an sich selbst entstehende Selbstmordwilligkeit, die einen Zustand weich machen und wahrscheinlich immer die passive Vorbedingung der Zeitabschnitte gewaltsamer politischer Veränderungen bilden. So war auch Ulrich durch sein ganzes Leben daran gewöhnt worden, von der Politik nicht zu erwarten, daß sie das vollbringe, was geschehen müßte, sondern bestenfalls das, was längst schon hätte geschehen sein sollen. Das Bild, unter dem sie sich ihm darbot, war meistens das einer verbrecherischen Nachlässigkeit. Auch die Soziale Frage, die das ein und alles Schmeißers bildete, erschien ihm nicht als Frage, sondern bloß als eine unterlassene Antwort, aber er konnte ein Hundert anderer solcher «Fragen» anführen, über die im Geist die Akten abgeschlossen waren und die, wie sich sagen ließe, vergeblich auf die manipulative Behandlung im Büro der Expedition warteten. Und wenn er das tat und Schmeißer milde gestimmt war, so sagte dieser: «Lassen Sie bloß erst einmal uns an die Macht kommen!»
Dann aber sagte Ulrich: «Sie sind zu gütig gegen mich, denn es stimmt ja gar nicht, was ich behaupte. Fast alle geistigen Menschen haben dieses Vorurteil, daß die praktischen Fragen, von denen sie nichts verstehen, einfach zu lösen wären, aber bei der Durchführung zeigt sich natürlich, daß sie bloß nicht alles bedacht haben. Anderseits, darin gebe ich Ihnen recht, bedächte der Politiker alles, so käme er nie zum Handeln. Vielleicht hat die Politik darum ebensoviel vom Reichtum der Wirklichkeit wie von Armut des Geistes (oder Mangel an Vorstellungen) –»
Das gab Schmeißer Gelegenheit zu einer frohlockenden Unterbrechung mit den Worten: «Menschen wie Sie kommen nicht zum Handeln, weil sie die Wahrheit nicht wollen! Der bürgerliche sogenannte Geist ist in seiner Gänze nur eine Verzögerung und Ausrede!»
«Warum wollen Menschen wie ich aber nicht?» fragte Ulrich. «Sie könnten doch wollen, Reichtum, zum Beispiel, ist ja nichts, was sie wirklich begehren. Ich kenne zwar kaum einen wohlhabenden Mann, der nicht davon eine kleine Schwäche trüge, mich inbegriffen, aber ich kenne auch keinen, der das Geld um seiner selbst willen liebte, außer Geizhälse, und Geiz ist eine Störung des persönlichen Verhaltens, die es auch in der Liebe gibt, in der Macht und in der Ehre: die krankhafte Natur des Geizes beweist geradezu, daß Geben seliger ist als Nehmen. Glauben Sie übrigens, daß Geben seliger ist denn Nehmen ...?» fragte er.
«Diese Frage können Sie in einem schöngeistigen Salon aufwerfen!» gab Schmeißer zur Antwort.
«Und ich befürchte,» behauptete Ulrich: «alle Ihre Anstrengungen werden zwecklos bleiben, solange Sie nicht wissen, ob Geben oder Nehmen seliger ist oder wie sie sich ergänzen!»
Schmeißer höhnte: «Sie beabsichtigen wohl die Menschheit in Güte zu überreden? Übrigens wird das rechte Verhältnis von Geben und Nehmen im Sozialen Staat eine Selbstverständlichkeit sein!»
«Dann behaupte ich,» ergänzte Ulrich lächelnd seinen Satz «daß Sie eben an etwas anderem scheitern werden, zum Beispiel daran, daß wir imstande sind, jemand Hund zu schimpfen, auch wenn wir unseren Hund mehr lieben als unsere Mitmenschen!?»
Ein Spiegel beruhigte Schmeißer, indem er ihm das Bild eines jungen Mannes zeigte, der eine scharfe Brille unter einer harten Stirn trug. Antwort gab er keine.
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Für und In
[Früher Entwurf]
Cand. ing. Schmeißer lebte in einem Haus mit Agathe. Er unter der Erde, sie oben im Licht – wie er mit grimmiger lyrischer
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