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Gesammelte Werke

Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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Beispiel der Musik darauf anwenden; alle unsere Erlebnisse waren dann vom Wesen der Musik, wenn nicht ein noch größerer Kreis das umschlösse. Denn —»
    Hier trat jedoch eine Störung ein, denn Schmeißer, dessen Lippen sich schon längst trocken begattet hatten, konnte die Geburt eines Einwands nicht länger zurückhalten. Er sagte laut: «Wenn Sie die Geburt der Moral aus dem Geiste der Musik ableiten, so vergessen Sie, daß alle Gefühle, von denen Sie sprechen mögen, ihren Sinn aus bürgerlichen Gewohnheiten und unter bürgerlichen Voraussetzungen empfangen!»
    Meingast drehte sich dem jungen Mann freundlich zu. «Als ich vor zehn Jahren zum erstenmal nach Zürich gekommen bin,» sagte er langsam «hat so etwas noch für revolutionär gegolten. Damals hätten Sie mit Ihrem Zwischenruf bei uns Erfolg gehabt. Ich darf Ihnen mitteilen, daß ich dort im linken Flügel Ihrer Partei, wo er aus aller Herren Ländern zusammengesetzt war, meine erste geistige Ausbildung empfangen habe. Aber es ist uns heute klar, daß die schöpferische Leistung der Sozialdemokratie» – er betonte den Bestandteil Demokratie – «bisher Null geblieben ist, und niemals darüber hinauskommen wird, die Kulturinhalte des Liberalismus neu revolutionär anzustreichen!»
    Schmeißer hatte nicht die Absicht, darauf zu antworten. Es genügte, mit einem Ruck der Nackenmuskeln das Haar nach hinten zu werfen und mit streng geschlossenen Lippen zu lächeln. Vielleicht konnte man auch sagen: «Oh bitte, lassen Sie sich durch mich nicht stören!» Er dachte daran, daß ein paar Zeilen im «Schuhmacher», ein paar saftig gespitzte Glossen, jederzeit am rechten Ort sein würden, um wieder einmal vor diesen Bürgerlichen zu warnen, die es nie lange in der Bewegung aushalten. Aber Ulrich rief dazwischen: «Spießen Sie ihm nur kein Marxzitat in den Leib; Herr Meingast würde mit Goethe antworten, und wir kämen heute nicht mehr nach Hause!» Und Schmeißer ließ sich hinreißen, doch etwas zu antworten. Da der Kampfwille fehlte, geriet es zu bescheiden; er sagte einfach: «Die neue Kultur, die der Sozialismus in die Welt gesetzt hat, ist das Solidaritätsgefühl ...» Die Antwort folgte nicht gleich; Meingast schien sich Zeit zu lassen, er erwiderte langsam: «Das ist richtig. Aber es ist herzlich wenig.» Nun riß Schmeißers Geduld: «Die sogenannte Universitätswissenschaft» rief er aus «hat seit langem das Recht verloren, ernst genommen zu werden, als geistiges Zentrum! In Altertümern zu stieren, Abhandlungen über die Gedichte irgendeines Dichterlings zu schmieren, römisches Unrecht zu pauken: das züchtet nur leeren Hochmut. Die wirklichen geistigen Arbeiter bildet längst die zielbewußte Arbeiterbewegung aus, die zielbewußten Klassenkämpfer, die die Barbarei der Ausbeutung beseitigen werden, und die werden dann die Grundlage einer zukünftigen Kultur schaffen!»
    Nun war es Walter, der sich empörte; er hatte schon jahrelang nicht so warm für die gegenwärtige Kultur empfunden wie angesichts dieses Zukunftskämpfers. Aber Meingast schnitt mit einer gütigen Bewegung den Gegenangriff ab. «Wir sind gar nicht so weit voneinander entfernt, wie Sie glauben;» antwortete er Schmeißer «auch ich halte wenig von der Universitätswissenschaft, und auch ich glaube, daß ein neues Gemeinschaftsgefühl, eine Abkehr vom Individualismus der letzten Aera, das wichtigste bedeutet, was heute im Werden ist. Aber –» und nun stand Meingast wieder wie ein Pfahlfetisch in den Wiesen, langgliedrig die das Wort mitbeschreibende Hand, und konnte genau dort fortfahren, wo er unterbrochen worden war. Das aber war vor seiner neuen Lehre vom Willen geschehen. Man darf unter Wille natürlich nicht etwa den Vorsatz verstehn, ein bestimmtes Geschäft aufzusuchen, weil dort das Zeichenpapier billiger ist. Oder ein Gedicht zu machen, das arhythmisch sein soll, weil alle anderen Gedichte bisher rhythmisch waren. Auch einen Vordermann niederzutreten, um selbst emporzukommen, zeigt nicht Willen an. Im Gegenteil, das ist bloß Willensschaum, den die vielen Hindernisse verursachen, die dem Willen heute im Wege liegen, ist also gebrochener Wille. Daß man auf so etwas das Wort Wille anwendet, ist ein Zeichen, daß sein wahrer Sinn überhaupt nicht mehr erlebt wird. Meingasts Patent war der ungebrochene kosmische Willensstrom. Er erläuterte seine Erscheinung an großen Männern wie Napoleon. (Vgl. Shaw’s Behauptung, daß nur die großen Männer etwas tun, und die

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