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Gesammelte Werke

Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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vergeblich.) Der Wille solcher Menschen ist Tätigkeit ohne Unterbrechung, eine Art Verbrennung wie das Atmen, muß unaufhörlich Wärme und Bewegung erzeugen, und für solche Naturen sind Stillstand und Umkehr gleichbedeutend mit Tod. Ebenso kann man das aber auch am Willen der mythischen Urzeiten erläutern; als das Rad erfunden wurde, die Sprache, das Feuer und die Religion: das waren Aufbäumungen, mit denen sich nichts Späteres mehr vergleichen läßt. Höchstens im Homer finden sich vielleicht noch die letzten Spuren dieser großen Willenseinfachheit und zusammengefaßten Schöpfungskraft. Nun faßte Meingast diese zwei verschiedenen Beispiele mit außerordentlicher Kraft zusammen: Es war nicht Zufall, daß sie von einem Staatsmann und von einem Künstler sprachen. «Denn, wenn ihr euch erinnert, was ich euch von der Musik gesagt habe, so ist das ästhetische Phänomen das, was keiner Ergänzung außer seiner selbst bedarf, was schon als Erscheinung alles das ist, was es überhaupt sein kann, also der rein verwirklichte Wille! (Wille gehört nicht zur Moral, sondern zur Ästhetik, den unbegründeten Erscheinungen.) Drei Schlüsse werden daraus zu ziehen sein: Die Welt ist nur als ästhetisches Phänomen zu rechtfertigen; jeder Versuch, sie moralisch zu begründen, ist ja auch bisher mißlungen, und wir werden nun verstehen, warum das so sein mußte. Zweitens: unsere Staatsmänner müssen, wie das schon die Urweisheit Platons verlangt hat, wieder Musik lernen; und Platon hat seine Anregungen dazu in den Weistümern des Orients geschöpft. Drittens: Nur systematisch geübte Grausamkeit bleibt als das Mittel, über das die vom Humanitarismus verblödeten europäischen Völker noch verfügen, um ihre Kraft wiederzufinden!»
    Mochte dieses Gespräch auch für Ohr und Verstand manchmal etwas Unverständliches haben, mit Auge und Gefühl verhielt es sich anders; aus einer philosophischen Höhe, wo ohnehin alles eins ist, stürzte es sich herab, und Clarisse fühlte das Sausen. Es begeisterte sie. Alle Gefühle waren in ihr aufgerührt und schwammen, wenn man so sagen darf, noch einmal in Gefühl. Sie hatte sich eine Weile lang unfern von Meingast in die Wiesen gestellt, um besser zu hören und ihre Erregung hinter einem scheinbar in die Weite zerstreuten Blick verbergen zu können. Aber das innere Brennen der Welt, von dem Meingast sprach, eröffnete ihr Gedanken wie Nüsse, aus denen Flammen schlagen. Sonderbare Dinge wurden ihr klar: Sommermittage, fröstelnd vor Lichtfieber; Sternnächte, stumm wie Fische mit Goldschuppen; Erlebnisse ohne Überlegung und Vorbereitung, die manchmal über sie kamen und ohne Antwort, ja eigentlich ohne Inhalt blieben; Spannung, wenn sie Musik machte, gewiß heute noch schlechter als irgendein Konzertspieler, aber so gut sie es vermochte und deutlich mit dem unheimlichen Gefühl, daß sich etwas Titanenhaftes, namenlose Erlebnisse, ein noch namenloser Mensch, größer als es die größte Musik fassen kann, gegen die Grenzen ihrer Finger preßten. Nun verstand sie ihre Kämpfe mit Walter; das waren Augenblicke plötzlich, wie wenn ein Boot über eine unendlich tiefe Stelle weggleitet; den Worten nach vielleicht für niemand anderen zu verstehn. Clarissens Finger- und Armgelenke begannen kaum merklich mitzuspielen; man sah, wie die junge Frau die Weisheit des Propheten in ihren eigenen, leibhaften Willen übersetzte. Die Wirkung, die er auf sie ausübte, war dem Wesen eines Tanzes verwandt, einem tanzenden Wandern. Die Füße lösten sich aus der verarmten und verhärteten Gegenwart; die Seele löste sich aus der Instinktunsicherheit und Schwäche; die Ferne bäumte sich auf; sie hielt eine Blume mit drei Köpfen in der Hand: Meingast nachfolgen, Nachfolge Christi, Walter erlösen, das waren die drei Köpfe, und waren es nicht, denn Clarisse dachte das nicht wie man zählt oder liest, von links nach rechts, sondern wie einen Regenbogen von einem Ende zum andern, aus dem Regenbogen stieg der Geruch des Schrankes auf, worin sie ihre Reisekleider verwahrte, dann bestand die Blume aus den drei Worten Ich suche, Ichsuche, Ichsucht, Clarisse hatte schon vergessen, woraus die Blume früher bestand, Walter war ein Stengel, selbst Meingast war bloß ein Stengel, Clarisse wuchs aus den Fußsohlen immer höher empor, das vollzog sich schwindelnd schnell, ehe man den Atem anhalten konnte, und Clarisse warf sich, erschreckt von ihrer Begeisterung für sich selbst, ins Gras nieder. Ulrich, der dort

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