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Gesammelte Werke

Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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änderte, war, daß bei jeder dieser Bewegungen ein anderer Finger aus der geballten Faust vorsprang; er wurde von einem lauten, keuchenden Schrei begleitet, den die ungeheure Anspannung des ganzen Körpers, die dazu nötig war, hervorpreßte. Dr. Friedenthal hatte erklärt, daß das stundenlang dauere, und hatte Clarisse noch in andere Zellen blicken lassen, wo augenblicklich Ruhe war. Aber dieser Anblick war womöglich noch schrecklicher gewesen. Er zeigte den gleichen kahlen ausbetonierten Raum, der nichts als einen Menschen enthielt, dessen Anfall man erwartete, und einer von diesen Menschen saß noch in Straßenkleidung da, man hatte ihm bloß den Kragen und die Halsbinde abgenommen. Es war ein Rechtsanwalt mit einem schönen Vollbart und sorgsam gescheiteltem Haar; er saß da und blickte die Besucher an, als sei er eben im Begriff gewesen, zu Gericht zu gehen, und habe sich nur auf diese Steinbank gesetzt, weil er aus Gott weiß welchen Gründen gezwungen sei, zu warten. Über diesen Menschen war Clarisse besonders erschrocken, weil er so natürlich aussah; wie Dr. Friedenthal sagte, hatte er aber erst vor wenigen Tagen in seinem ersten Anfall seine Frau ermordet, und so ziemlich alle Augenblicksbewohner dieser Abteilung waren Mörder gewesen. Clarisse fragte sich, warum sie sich vor ihnen fürchte, obgleich doch gerade diese Kranken am besten von allen verwahrt und bewacht wurden? Sie fürchtete sich vor ihnen, weil sie sie nicht verstand. Es gab in ihrer Erinnerung auch noch einige andere, wo es ihr ebenso erging. «Aber das ist doch kein Grund dafür, daß ich ihnen begegnen muß, wenn ich nachts durch den Park laufe!?» sagte sie sich.
    Nun war das aber so. Daß sie ihnen dabei begegnen könne, stand nahezu fest; das war eine Vorstellung, gegen die nichts zu unternehmen war, denn so oft sich Clarisse den Vorgang ausmalte, wie sie über die Mauer steigen und dann zwischen den weit auseinanderstehenden düsteren Bäumen vorwärtsschreiten werde, kam es früher oder später zu einem grauenvollen Zusammenstoß. Damit war also wohl eine Tatsache gegeben, mit der man rechnen mußte, und es fragte sich vernünftigerweise darum, was sie bedeuten solle. Selbst ein so gesetzter Mann wie der berühmte alte amerikanische Schriftsteller Ralph Waldo Emerson, den sie schon in ihrer Mädchenzeit gelesen hatte, weil ihre Freunde sagten, daß er wunderbar sei, hat behauptet, es sei ein allgemeines Natur- und Menschengesetz, daß Gleiches von Gleichem angezogen werde. Clarisse erinnerte sich ungefähr an einen Satz, der lautete, daß alles, was einem Menschen zukommt, von selbst zu ihm hinstrebe, so daß Ursache und Wirkung nur scheinbar aufeinander folgen, in Wahrheit aber bloß zwei Seiten derselben Sache seien und alle Klugheit schlecht sei, weil sie mit jeder Vorsichtsmaßregel gegen die Gefahr in die Gewalt dieser Gefahr versetze. Davon hatte Clarisse, weil sie sich daran erinnerte, bloß die persönliche Anwendung zu machen. Wenn es feststand, daß sie, wenn auch zunächst nur in einer geheimnisvollen gedanklichen Weise immer wieder den Mördern begegne, so zog sie diese Mörder an. Nun wird aber Gleiches von Gleichem angezogen? Also trug sie die Seele eines Mörders in sich. Man muß sich vorstellen, was es heißt, wenn solche ungewöhnlichen Gedanken plötzlich Boden unter den Füßen bekommen!
    [◁]
96
    Clarisse besucht Walter im «Atelier»
    [Entwurf]
    Sie trifft Walter im «Atelier» an; kahler fröstelnder Raum. Er ist halb angezogen und hat einen Schlafrock darüber. Die Pinsel sind trocken, er sitzt vor Entwürfen. Eigentlich hätte er aber schon im Amt sein sollen.
    Er ist erregt davon, daß Meingast ohne Abschied abgereist und Clarisse geheimnisvoll aufgeregt ist. Ev. hier: Eigentlich hatte er wollen ... solange Meingast im Haus ist ...
    Schon in der Tür ruft ihm Clarisse zu: Komm, komm! Wir gehn zu Dr. Friedenthal und bitten ihn, daß er uns Moosbrugger zur Pflege überläßt.
    Walter kann den Kopf nicht von ihr abwenden und sieht sie an.
    «Frag nicht!» befiehlt Clarisse.
    Konnte da Walter in diesem Augenblick noch daran zweifeln, daß ihr Geist verstört sei. Die Antwort darauf wird immer sehr von den Umständen abhängig sein. Clarisse sah heftig und schön aus. In ihren Augen lebte ein Feuer, das geradezu so aussah wie das Feuer eines gesunden Willens. Und so gewann in Walter Raum, was ihr Bruder Siegmund über sie gesagt und erst vor kurzem wiederholt hatte, als ihn Walter abermals befragte. Siegmund

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