Gesammelte Werke
unbestimmbare Beschaffenheit an wie in blendendem Licht. Sie empfanden fast Verwunderung darüber, daß sie noch existierten (ihre Personen noch vorhanden waren).
Namentlich Clarisse war in ein solches Fieber geraten, daß sie sich gegen die ihr zugefügten Schmerzen unempfindlich fühlte, und wenn sie wieder zu sich kam, berauschte sie das durch die Überzeugung, die gleichen Geister, die sie in letzter Zeit erleuchtet hätten, stünden ihr nun bei und kämpften auf ihrer Seite. Um so mehr entsetzte es sie, als sie mit der Zeit bemerken mußte, daß sie ermüdete. Walter war stärker und schwerer als sie; Ihre Muskeln wurden taub und locker. Es kamen Pausen, wo sie von seinem Gewicht an die Erde gedrückt wurde und sich nicht rühren konnte, und die Abfolgen von Abwehrbewegungen und rücksichtslosen Angriffen gegen empfindliche Körper- und Gesichtsstellen, in denen sie sich Luft schaffte, wurden immer öfter von Ohnmacht und erstickendem Herzklopfen abgelöst. So trat das ein, was Walter erwartet hatte: die Natur siegte, Clarissens Körper ließ ihren Geist im Stich und verteidigte nicht mehr seinen Willen. Ihr kam das vor, als hörte sie in sich die Hahnen schrein am Ölberg: ungeheuerlich, Gott verließ ihre Welt, es bereitete sich etwas vor, das sie nicht absehen konnte. Und Walter schämte sich zuweilen schon. Wie ein Lichtstrahl traf ihn dann die Reue. Es kam ihm auch vor, daß Clarisse gräßlich verzerrt aussehe. Aber er hatte schon so viel gewagt, daß er nicht mehr ablassen wollte. Er benutzte die Ausrede, daß die Brutalität, die er begehe, sein Recht als Gatte sei, um sich weiter zu betäuben. Plötzlich schrie Clarisse. Sie bemühte sich, einen langen, schrillen, eintönigen Schrei auszustoßen, als sie ihren Willen entweichen sah, und bei dieser letzten, verzweifelten Abwehr lag ihr im Sinn, sie könnte vielleicht mit diesem Schrei und dem Rest ihres Willens selbst ihrem Körper entfahren. Aber sie hatte nicht mehr viel Atem; der Schrei dauerte nicht lange und niemand wurde von ihm herbeigezogen. Sie war allein gelassen. Walter war über diesen Schrei erschrocken, verschärfte dann aber zornig seine Bemühungen. Sie fühlte nichts. Sie verachtete ihn. Schließlich verfiel sie noch auf ein Auskunftsmittel: sie zählte so schnell und so laut sie konnte «Eins, zwei, drei, vier, fünf. Eins, zwei, drei, vier, fünf», immer wieder. Es war Walter schrecklich, aber es hielt ihn nicht auf.
Und als sie sich verstört aufrichteten, sagte sie: «Warte, ich werde mich rächen!»
In dem Augenblick, wo dieser widerliche Auftritt beendet war, schlug die Beschämung über Walter zusammen. Clarisse saß mit finsterem Gesicht, nackt wie sie war, in einem Winkel und erwiderte nichts auf seine Bitten um Verzeihung. Er mußte sich ankleiden; Blut und Tränen flössen ihm in den Rasierschaum. Er mußte forteilen. Er fühlte, daß er die Geliebte aller Tage seit seiner Jugend nicht in diesem Zustand zurücklassen könne. Er suchte sie wenigstens zu bewegen, daß sie sich ankleide. Clarisse entgegnete, sie könne nun ebenso gut so sitzen bleiben bis ans Ende aller Tage. Von seiner Verzweiflung und Hilflosigkeit wich da sein ganzes Mannesleben zurück, er warf sich auf die Knie und bat sie mit erhobenen Händen, ihm zu verzeihen, so wie er einst gegen Schläge gebeten hatte; es fiel ihm nichts anderes mehr ein.
«Ich werde alles Ulrich (den anderen) erzählen!» sagte Clarisse ein wenig versöhnt. Walter bettelte sie, es zu vergessen. Es lag in seiner Würdelosigkeit etwas, das mit ihm versöhnte; er liebte Clarisse, die Scham war wie eine Wunde, aus der wirkliches, warmes Blut quoll. Aber Clarisse verzieh ihm nicht. Sie konnte ihm so wenig verzeihn wie ein Kaiser verzeihen kann, der die Verantwortung für ein Reich trägt, solche Menschen sind etwas anderes als Privatperson. Sie ließ ihn schwören, sie nicht mehr anzurühren, ehe sie ihm es erlaube. Walter wurde zu einer Sitzung erwartet; er schwor rasch, mit der Uhr im Herzen. Dann gab ihm Clarisse dennoch den Auftrag, Ulrich herzuschicken; sie sagte zu, daß sie schweigen werde, aber sie brauchte die beruhigende Nähe eines vertrauten Menschen.
[◁]
97
Walter bei Ulrich
[Früher Entwurf]
In einer Dienstpause nahm Walter einen Wagen, um so rasch es möglich war zu Ulrich zu kommen.
Ulrich war zu Hause. Sein Leben ödete ihn an. Er wußte nicht, wo Agathe war. Seit sie sich von ihm getrennt hatte, besaß er keine Nachricht von ihr. Sorge um ihr Ergehen marterte
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