Gesammelte Werke
während ihre Seele immer tapferer wurde, je länger sie mit Moosbrugger beisammen war. Und in der Tat, wer in der richtigen Beziehung zu Verbrechern lebt, lebt zwischen ihnen so sicher wie zwischen anderen Menschen.
Moosbrugger hatte nicht richtig gefunden, sich bei einem so wichtigen Geschäft, wie es das Essen ist, durch die Blicke des Mädchens stören zu lassen. Nun aber lehnte er sich nach getaner Arbeit zurück, klappte sein Messer zu, strich die Reste von seinem Schnurrbart und sagte: «Na, kleines Fräulein, jetzt wäre wohl ein Glas Schnaps nicht ohne –»
Rachel beeilte sich, ihm zu versichern, daß keine alkoholischen Getränke im Hause seien, und sie fügte die Lüge hinzu, daß Clarisse ihr auch aufgetragen habe, keine anzuschaffen.
Moosbrugger hatte es gar nicht so ernst gemeint. Er war kein Trinker, ja er hütete sich selbst vor dem Alkohol, dessen unberechenbare Wirkung er fürchtete. Aber er hatte monatelang keinen Tropfen gesehn und hatte sich nach der reichlichen Mahlzeit gedacht, es wäre nicht übel, an diesem langweiligen Abend einen zu versuchen. Er ärgerte sich über die Abweisung. Diese Weiber setzten ihn ja ordentlich gefangen. Aber er ließ es sich nicht merken und nahm sich vor, die Unterhaltung in bester Form fortzusetzen.
«Da wären wir also sozusagen wie Mann und Frau bis auf weiteres, kleines Fräulein,» begann er «wie soll ich dich denn nennen?» Er gebrauchte das natürliche Du der einfachen Leute; es war Rachel nicht unangenehm, aber ebenso natürlich blieb sie beim Sie. «Ich heiße Rachel oder Rachele, wie Sie wollen.»
«Oh, lala, Rachèle, alle Achtung!» Er sprach den französischen Namen zweimal mit Genuß aus. – «Und Rachel war die schönste Tochter Labans» – er lachte galant.
«Erzählen Sie mir, wie Sie die Maurer besiegt haben!» bat Rachel. Um etwas noch Aufregenderes traute sie sich nicht zu bitten.
Moosbrugger wandte sich ab und drehte eine Zigarette. Er war beleidigt. In seinen Kreisen galt so eine Frage für eine unerlaubte Vertraulichkeit bei flüchtiger Bekanntschaft. Er rauchte mehrere Zigaretten hintereinander. Er langweilte sich. Unbedeutende, zudringliche Frauenzimmer waren nichts für ihn. Er wurde schläfrig. Er war es jetzt aus dem Gefängnis und der Anstalt gewohnt, sehr früh zur Ruhe zu gehn.
Rachel ärgerte sich darüber, daß er so rücksichtslos rauchte. Sie hatte wohl auch das Gefühl, etwas schlecht gemacht zu haben, aber sie wußte nicht was.
Moosbrugger stand auf, vertrat sich die Beine und gähnte.
«Wollen Sie zur Ruhe gehn?» fragte Rachel.
«Was soll man sonst anfangen!» meinte Moosbrugger. Er besah das Bett; dann, in Erinnerung an die Gebote der Ritterlichkeit, wandte er sich in die Ecke, wo die Decken lagen.
«Schlafen Sie doch im Bett. Sie brauchen Erholung» sagte Rachel.
«Nein, im Bett kannst du schlafen.» Er legte seinen Rock ab. Rachel geriet in Verlegenheit, als Moosbrugger aus den Hosen fuhr. Aber so, wie er dann war, legte er sich auf die Decken und zog eine davon über sich. Rachel wartete eine Weile, dann blies sie das Licht aus und entkleidete sich im Dunkel.
In der Nacht fürchtete sie sich wieder; sie bildete sich ein, wenn sie einschlafe, könnte es so kommen, daß sie überhaupt nie mehr erwache. Aber dann schlief sie doch bald ein und erwachte, wie der Morgen ins Zimmer schien. In der Ecke lag Moosbrugger, zugedeckt, wie ein großer Berg. Im Haus war noch alles still. Rachel benutzte das, um vom Brunnen Wasser zu holen. Sie reinigte auch ihre und Moosbruggers Schuhe draußen im Hof. Als sie leise wieder zur Türe hereinschlüpfte, sagte ihr Moosbrugger guten Morgen.
«Wollen Sie Kaffee, Tee oder Schokolade?» fragte sie ihn. Moosbrugger war ganz erstaunt darüber. Er sagte Kaffee, aber die Entscheidung fiel ihm wirklich nicht leicht. Auch gefiel ihm Rachel jetzt bei Tag besser als gestern abend; sie hatte etwas Feines und Gebildetes in ihrer Erscheinung. Er gab sich Mühe beim Ankleiden und drehte sich erst wieder von der Wand fort, als er ganz fertig war.
«Waren Sie mir gestern abend böse?» fragte Rachel, die seine Aufgeräumtheit bemerkte.
«Ach, Weiber wollen immer alles wissen, aber wenn du willst, kann ich dir ja die Geschichte von den Maurern erzählen. Du wirst daraus sehen, wie die Leute sind; alle sind sie gleich. Und was hast du bis jetzt gemacht?»
«Ich war in einem sehr vornehmen Haus, man hat mich dort wie eine Tochter gehalten.»
«Na, und warum bist du dann
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