Gesammelte Werke
Wagens ohne alle Vorsicht zugesteckt hatte. Sie glättete die Scheine und barg sie in einem Täschchen, das sie am Busen trug. Wenn sie gewußt hätte, daß sie vor dem Tische saß, an dem Meingast sein großes Werk geschaffen hatte, und daß auch das schmale Eisenbett seines gewesen war, hätte sie vielleicht einiges mehr verstanden. So seufzte sie bloß noch einmal, aber doch schon beruhigter über die Zukunft, und entdeckte auch noch einen alten Herd, einen Spirituskocher und etwas Geschirr, ehe Clarisse mit Moosbrugger zurückkam.
Dieser Augenblick war wie der schreckliche Augenblick beim Zahnarzt, wenn man ins Zimmer gerufen wird, was Rachel bisher nur ein einzigesmal kennengelernt hatte, und sie stand gehorsam auf, als die beiden eintraten.
Moosbrugger ließ sich von Clarisse ins Zimmer führen, wie ein großer Künstler in einen Kreis von Menschen eingeführt wird, die auf ihn warten. Er wollte Rachel nicht bemerken und musterte zuerst den. neuen Raum, dann erst, nachdem er nichts auszusetzen hatte, richtete er seinen Blick auf das Mädchen und nickte einen Gruß. Clarisse schien ihm nichts mehr zu sagen zu haben; sie schob ihn, ihre winzige Hand an seinem riesigen Arm, gegen den Tisch zu und lächelte bloß. Sie lächelte so, wie es jemand tut, der alle Muskeln bei einem gewagten Unternehmen anspannen muß und dazu lächeln will, so daß sich die zarten Gesichtsmuskeln scharf zusammenziehen müssen, um sich zwischen der Pressung aller anderen durchzuzwängen. Diesen Ausdruck behielt sie auch bei, als sie ein Pack Eßwaren auf den Tisch stellte und den beiden anderen erklärte, daß sie keine Minute mehr bleiben könne und eilig nach Hause müsse. Sie versprach, am nächsten Morgen gegen zehn Uhr wiederzukehren, und dann solle alles in Ordnung gebracht werden, was im Augenblick noch fehle.
So war nun Rachel mit dem bewunderten Mann allein. Sie deckte den Tisch mit einem Kissenüberzug, da sich kein Tischtuch vorfand, und breitete den Aufschnitt, den Clarisse mitgebracht hatte, auf einem großen Teller aus. Diese Pflichten kamen ihrer Verlegenheit sehr zu Hilfe. Dann sagte sie, das Essen auf den Tisch stellend, in gewähltem Deutsch: «Sie werden Hunger haben»; diesen Satz hatte sie sich inzwischen ausgedacht. Moosbrugger war aufgestanden und bot ihr mit einer galanten Bewegung seiner großen Pratze seinen Platz an, denn es zeigte sich, daß nur dieser eine Stuhl vorhanden war. «Oh danke,» sagte Rachel «ich esse nicht viel, ich werde mich dorthin setzen!» Sie nahm zwei Scheibchen von dem Teller, den ihr Moosbrugger reichte, und setzte sich damit aufs Bett.
Moosbrugger hatte ein grauenerregend langes Schnappmesser aus der Tasche gezogen und bediente sich damit beim Essen. Er hatte in den Tagen seiner Flucht unregelmäßig und schlecht gegessen und entwickelte großen Hunger. Rachel benützte die Gelegenheit, um ihn zu betrachten; richtiger gesagt, sie mußte das tun, denn sobald sie nur in der Richtung des Tisches sah, wurde ihr ganzes Auge von der Erscheinung dieses Mannes ausgefüllt, ja mehr, seine Erscheinung überfüllte ihr Auge, ging auf allen Seiten über den Rand hinaus, und Rachel konnte ihren Blick richtig spazierenführen; über die ganze Breite der Brust oder von der Tischkante zu dem dichten Schnauzbart, auch von dem Kinn bis zum Dach des mächtigen Schädels war das zum Beispiel ein weiter Weg, und in den rotblonden Haaren der gewaltigen Fäuste konnte man verweilen wie in einem Gebüsch. In Rachel waren einstweilen alle Gedanken und ein Teil der Träumereien wieder zurückgenommen, deren Gegenstand einstens Moosbrugger gewesen war. Vor allem suchte sie sich zu vergegenwärtigen, wie viele Frauen sie jetzt um die Lage beneiden möchten, in der sie sich befand. Für sie war Moosbrugger ein großer und berühmter Mann, ganz der Wahrheit entsprechend, wenn man die Unterschiede des öffentlichen Ruhms beiseite läßt, die zwar gemacht werden, aber keineswegs genau und deutlich sind. Sie übersah nicht das Fürchterliche an diesem Ruhm, der durch blutige, grausame, ja sogar heimtückische Taten erworben war, denn sie zitterte vor Angst, obgleich sie auch vor Aufregung glühte. Aber wie alle Menschen bewunderte sie an dieser Grausamkeit die Kraft, und wie alle ursprünglichen Menschen setzte sie voraus, daß diese herkulische Kraft in Berührung mit ihr nicht gefährlich sein, sondern sich zum Guten umlenken werde, so daß ihre Furcht ihr nur als kleinmütige äußere Gewohnheit vorkam,
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