Gesammelte Werke
dessen Spindel ihm das dünne Mädchen vorkam, das sich den ganzen Tag um ihn bewegte. Er sprach nur das Nötigste und ließ alle Versuche Rachels, das Gespräch wieder auf die Höhe des ersten Morgens zu bringen, unberücksichtigt. Dazu noch von ihren eigenen Sorgen gepeinigt, war Rachel sehr unglücklich.
Nach wenigen Tagen kam es zu dem ersten Auftritt zwischen ihr und ihm. Als das Abendbrot und auch eine Weile des Gähnens vorbei waren, zog Moosbrugger das kleine Geldtäschchen, aus dem Rachel den täglichen Bedarf beglich, an sich, und suchte mit seinen dicken Fingern ein Geldstück herauszufischen. Rachel, die sofort begriff, was er wolle, aber ihm ihre Börse nicht rechtzeitig hatte entziehen können, lief um den Tisch und fiel ihm in den Arm. «Nein,» rief sie aus, «Sie dürfen nicht ins Wirtshaus gehn! Man wird –» Aber sie kam nicht dazu, diesen Satz zu vollenden, denn Moosbruggers Arm schob sie so streng zur Seite, daß sie das Gleichgewicht verlor und alle Mühe aufwenden mußte, um nicht zu fallen. Moosbrugger setzte seinen Hut auf und verließ das Zimmer, so unnahbar wie eine große Steinfigur.
Rachel überlegte verzweifelt, was sie zu tun habe. Sie beschloß, den Kampf gegen Moosbruggers Unklugheit aufzunehmen. Sie warf sich vor, daß sie sich durch sein verändertes Benehmen habe erschrecken lassen, und in der Einsamkeit des Nachdenkens kam ihr dieses Benehmen begreiflich vor. Als die Schwächere hatte sie es leicht, die Klügere zu sein, aber sie mußte alles daransetzen, ihm begreiflich zu machen, daß sie es in diesem Falle auch wirklich sei, und wenn er das einsähe, würde er sich wohl auch mit seiner Lage ein wenig befreunden, denn Rachel begriff ganz gut, daß das keine Lage für einen Helden war. Aber Moosbrugger war, als er nachhause kam, betrunken. Die Stube füllte sich mit üblem Geruch, sein Schatten tanzte an den Wänden; Rachel war entgeistert, und ihre Worte liefen in spitzen Vorwürfen diesem Schatten nach, ohne daß sie es selbst wollte. Moosbrugger war auf ihrem Bett gelandet und winkte ihr mit dem Finger. «Nein, niemals wieder!» schrie Rachel. Moosbrugger zog eine Flasche aus der Brust, die er mitgebracht hatte. Er war schon vor elf Uhr aus der Wirtschaft aufgebrochen und war bloß zu einem Drittel von Schnaps gefüllt, zum zweiten von schlechtem Gewissen und zum dritten von Ärger über seinen Aufbruch. Rachel ließ sich verleiten, sich auf ihn zu stürzen, um ihm die Flasche zu entreißen. In diesem Augenblick glaubte sie, daß ihr Kopf zerberste, die Lampe drehte sich, und ihr Körper verlor allen Zusammenhang mit der Welt; Moosbrugger hatte ihr Zustürzen mit einem gewaltigen Tatzenschlag in ihr Gesicht abgewehrt, und als Rachel zu sich kam, lag sie weit von ihm entfernt auf der Erde, zwischen den Zähnen sickerte etwas hervor, und Oberlippe und Nase schienen schmerzhaft zusammengewachsen zu sein. Sie sah, wie Moosbrugger immer noch die Flasche betrachtete, dann schmetterte er diese unwirsch zur Erde, stand auf und blies das Licht aus.
Ob mit Willen oder bloß in seiner Trunkenheit, Moosbrugger hatte das Bett besetzt, und Rachel kroch weinend auf den Deckenhaufen, in dessen Nähe sie hingestürzt war. Die Schmerzen in ihrem Gesicht und Körper ließen sie nicht schlafen, sie getraute sich aber nicht, Licht zu machen und sich Umschläge zu bereiten. Es war ihr kalt, die Schande erfüllte ihren Kopf mit einem Zustand, der ganz der gehaltlosen Unruhe von Fieberphantasien glich, und der ausgeronnene Schnaps überzog den Boden mit einem lähmenden, ekligen Dunst. So gut sie es vermochte, überlegte sie während der ganzen Nacht, was zu geschehen habe. Sie mußte Clarisse finden, aber sie hatte keine Kenntnis, wo Clarisse wohne. Sie wollte fortlaufen, aber dann sagte sie sich wieder, daß sie Clarissens Vertrauen täuschen würde, wenn sie Moosbrugger im Stich ließe, ehe diese wiedergekommen sei, sie hatte doch Geld dafür bekommen. Es fiel ihr auch ein, daß sie Ulrich aufsuchen könnte, aber sie schämte sich und verschob das auf später. Sie war noch nie geschlagen worden, aber wenn man von dem Schmerz absah, so war es nicht so schlimm; es drückte einfach die Tatsache aus, daß sie schwächer war als dieser Riese, den sie liebte, daß ihre Beschwörungen nicht bis zu seinem Ohr drangen und daß sie vorsichtig sein mußte; er wollte ihr nichts Ernstes tun, das sah sie wohl, und das Unangenehmste blieb die Angst, die sie vor einer Wiederholung ihrer Züchtigung hatte,
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