Gesammelte Werke
ihrer Feigheit ihres Wohltäters unwürdig vor. Die Darstellung, die uns unser Inneres von dem gibt, was wir tun sollen, ist außerordentlich trügerisch und launisch. Rachel kam mit einemmal das Ganze wie ein Scherz vor, ein Spiel, eine Nichtigkeit. Sie würde einen Laden und ein Zimmer haben; wenn sie wollte, konnte sie die Tür dazwischen absperren. Ebenso würde es zwei Ausgänge geben, wie bei den Zimmern auf dem Theater. Der ganze Vorschlag war nur eine Formalität, und es war wirklich übertrieben von ihr, Schwierigkeiten zu machen, wenngleich sie sich» grauenhaft vor Moosbrugger fürchtete. Diese Feigheit mußte sie überwinden. Und wie hatte die Dame gesagt» Dann kommt alles das in ihm hervor, was ihrem Wesen entspricht. Wenn er wirklich nicht so furchtbar war, so hatte sie dann doch das, was sie sich früher leidenschaftlich gewünscht hatte.
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Moosbrugger und Rachel
Mit dem Laden und dem anstoßenden Zimmer und den zwei Ausgängen war es nichts geworden; Clarisse war erschienen und hatte erklärt, daß sich der Miete im letzten Augenblick Schwierigkeiten entgegengestellt hätten; man müsse nehmen, «was da sei, die Zeit dränge, und das Schicksal hänge vielleicht von Viertelstunden ab. Sie habe einen anderen Raum gefunden. Ob Rachel ihre Sachen schon eingepackt und beisammen habe: Das Auto warte unten. Es sei leider kein schöner Raum. Und vor allem sei er noch nicht möbliert. Clarisse habe aber schnell das Nötigste hineinstellen lassen. Jetzt handle es sich aber nur darum, rasch Moosbrugger unterzubringen. Alles andere lasse sich morgen ordnen. Und das Heutige sei nur vorläufig. – Den größeren Teil dieses Berichts stattete Clarisse schon im Auto ab. Die Worte wirbelten. Rachel fand keine Zeit sich zu besinnen. Der Fahrpreisanzeiger, von einem kleinen Lämpchen halb beleuchtet, rückte ohne Aufhören vor; Rachel hörte bei jeder Umdrehung der Räder das Knacksen des Kilometerzählers, so wie wenn ein Gefäß einen Sprung hat und unaufhörlich tropft; Clarisse drückte ihr im Dunkel der alten Droschke einen Haufen Geld in die Hände, und Rachel hatte zu tun, um ihn in ihre Taschen zu stopfen; das Papier quoll dabei auf, einzelne Blätter segelten davon und mußten wieder eingefangen werden; und Clarisse half ihr lachend suchen, und der Rest des langen Wegs war ganz davon ausgefüllt.
Der Wagen hielt in einer abseitigen Gasse vor der baufälligen Front eines alten «Hofs»; das sind tiefe Grundstücke, wo von einem schmalen Gassenteil niedere Flügel nach hinten laufen, mit Werkstätten, Ställen, Hühnern, Kindern, und den kleinen Wohnungen großer Familien, die sich unmittelbar auf den Hof öffnen oder, einen Stock höher, auf einen ins Freie hinaushängenden, von außen alles verbindenden Gang. Clarisse half Rachel schleppen und schien den Hausmeister vermeiden zu wollen; sie stießen an Wagen, die im Dunkel standen, an Werkzeuge, die überall herumlagen, und an den Brunnen, aber sie kamen unbehelligt bis zu Rachels neuer Wohnung. Clarisse hatte eine Kerze in der Tasche und fand mit ihrer Hilfe eine große Petroleumlampe, an die sie sich erinnert hatte, um sie vom Dachboden ihrer Eltern zu entführen. Es war ein hohes, in Metall getriebenes Stück, das alle letzten Fortschritte, welche die Petroleumzeit gemacht hatte, kurz ehe sie von der elektrischen Hausbeleuchtung endgültig verdrängt wurde, in sich faßte und das ganze Zimmer, weil der Schirm fehlte, mit massigem Licht füllte. Clarisse war sehr stolz darauf, aber sie mußte eilen, da sie den Wagen an der nächsten Ecke warten ließ, um Moosbrugger zu holen.
Rachel traten die Tränen in die Augen, sowie sie allein war und sich mit ihrer neuen Umgebung vertraut machte. Der dicke weiße Lichtschein war fast das einzige, was es in dem Zimmer gab, außer den schmutzigen Wänden. Aber der Schreck hatte Rachel ungerecht gemacht; bei genauerem Hinsehen fand sich an einer Wand ein schmales Eisenbett, auf dem so etwas wie Bettzeug lag, in einer Ecke war ohne Ordnung eine Anzahl Decken aufgehäuft, die wohl das zweite Lager darstellen sollten, Decken hingen auch vor den Fenstern und der Türe, die ins Freie führte, und bildeten vor einem kleinen, sehr einfachen Tisch eine Art Teppich, auf dem auch noch ein gehobelter Stuhl stand. Rachel setzte sich seufzend darauf und zog ihr Geld hervor, um es in Ordnung zu bringen. Nun erschrak sie wieder, diesmal aber über die Größe, ja den Überfluß des Betrags, den ihr Clarisse im Dunkel des
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