Gesammelte Werke
damals meine Seele gefüllt worden ist», wie sie später sagte, spielte als Leitfarbe dieser Gedanken noch eine große Rolle in ihr. (Das grüne Licht bedeutet ihre Reise.)
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Auf nach Siena!
[Früher Entwurf]
Als sie am nächsten Tag ihre Aufzeichnungen durchlas, verwarf sie diese. Sie nahm ein neues Blatt Papier und zog durch die Mitte ein Kreuz. Es überraschte sie kaum noch, daß dieses nackte, also zerlegte Stück Papier sogleich zu leben begann. Man brauchte es bloß anzusehen und entdeckte mit seiner Hilfe sogleich eine Fülle merkwürdiger Bestätigungen. Alles Obere strebt hinab, alles Untere hinauf: Grundgesetz des Daseins! Clarisse trug links oben das Wort Mann ein und rechts unten das Wort Frau. Nicht nur streben sie in diese Lage, sondern die Frau vermännlicht sich heute, und der Mann verweiblicht ... «Es gibt ja heute keine Männer mehr!» sagte sich Clarisse. Als sich ihr das an dem magischen Kreuz bestätigt hatte, suchte sie nach neuem. Der Regen fällt abwärts, der Rauch steigt auf; sie setzte sofort hinzu, daß Tränen von oben kommen (und Träume von unten), aus einer großen Seele, aber abwärts ziehen: sagte ihr das Kreuz nicht alles, was sie in einem wochenlangen Kampf gegen das Mitleid mit Walter erfahren hatte?! Sie hatte das Gefühl, etwas der modernen Kunst Ähnliches zu tun ... Fieberhaft setzte sie diese Untersuchung fort. Es gibt Eckenmenschen, deren Leben, was immer geschehen mag, von oben nach oben zieht oder in der «untern Horizontale» bleibt; es sind Menschen des Niveaus, sie ändern die Welt nicht. Auch Diagonalmenschen gibt es, aber sie hielt sich jetzt nicht bei ihnen auf, denn es lockte sie schon die Entdeckung der Doppelmenschen: sie sinken und steigen; ihr Leib sinkt, ihre Seele steigt! Das sind die Menschen, die den auf- und absteigenden Senkrechten entsprechen. Sie gehen von Leid zu Kraft über. Oder von Helligkeit zu Düsternis. Sie sind in zwei Schichten zuhause. Ohne Zweifel waren das die Menschen, zu denen sie gehörte. Die Stimmung ihres Eintreffens gestern in diesem Sanatorium mit der sofort einsetzenden «Sehnsucht nach dem Horizontalen» wurde heftig lebendig in ihr, eine unausdrückbare Traurigkeit, «so weich wie der Faden eines Regens», zog sie abwärts. Sie drehte die Zimmerbeleuchtung auf, obgleich es noch Vormittag war, in das grüne Blätterlicht sprengten sich rötliche blasse Lichtkeile ein. Sie schauderte vor Einsamkeit. Es schien ihr, daß die rötlichen Lichtkeile in der Mitte des Zimmers ein Kreuz bildeten, und sie stellte sich darunter. In diesem Augenblick erkannte sie mit Bestimmtheit, daß sie selbst ein «Doppelmensch» sei, und die Entspannung, die jede Bestimmtheit mit sich bringt, verbreitete sich wohltätig in ihr.
Sie begriff sich aber nun in der ungeheuren Gefahr, krank zu werden. Man hatte sie hierher gebracht, wo sie krank werden mußte. Sie verhehlte sich nicht, daß sie in Wahrheit auch bereits ganz nah einer schweren Erkrankung sei. Schuld war die Weichherzigkeit Walters, der sie hierher geschickt hatte. Sie hätte ihm nicht folgen sollen, nun gut, sie war ihm aber gefolgt. Sie sagte sich: ich soll wahnsinnig werden. Sie wiederholte es. Laut flüsternd. Unter dem Kreuz. Das war wohl doch anders, als wenn man nur mit solch einem gefährlichen Wort spielt.
Aber Geisteskrankheit war nicht einfach Sturz in Finsternis. Die Geisteskranken erschienen ihr als am Rande der Gesundheit angesiedelte Wesen; ein Nichts, und sie werden fortgetrieben; mit ungeheurer Anstrengung, mit der sich die Leistungen der Gesunden nicht vergleichen lassen, müssen sie sich emporarbeiten. Ausnahmemenschen — fühlte Clarisse; Erkrankung ist eine falsche Auffassung, gegen die sie sich, im Namen einer höheren Moral, zu verteidigen verpflichtet war.
Sie mußte ohne Verzug fliehen. In diesem Augenblick schwebte ein Leben voll Visionen, Halluzinationen, Engeln und noch stärkeren Gebilden, die sie sich nicht erklären konnte, um sie. «Man muß gesund genug für seine Krankheit sein,» sagte sie sich, listig lächelnd «es gibt Neurosen der Gesundheit.» Italienische Musik erklang und spielte ihr die grausame Heiterkeit des Südens vor. Eine Stimme in ihr rief: «Auf nach Siena!»
In diesem Augenblick überblickte sie ihre Lage ganz klar und ruhig. Sie stand am Kreuzweg. Doppelmensch. Die beiden feindlichen Könige Christus und Nietzsche begegneten sich in ihr. Sie waren der gekrönte König der Welt und der ungekrönte derer, die an keine Könige
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