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Gesammelte Werke

Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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fast ganz zurücktraten, nur eine gewisse Scheu vor der sanatoriumsstrengen Hausordnung bewog sie, in den Speisesaal zu gehen. Sie hatte vor einiger Zeit irgendwo einen Aufsatz über Franz von Assisi gelesen; in dem Heft, das sie anlegte, kehrte er wieder, in ganzen Abschriften mit geringfügigen persönlichen Änderungen wiederholt, aber ohne daß sie das störte. Die Ursprünglichkeit geistiger Leistungen wird heute noch falsch eingeschätzt. Der überkommene Heldensinn streitet bei jedem neuen Gedanken und jeder Erfindung noch immer um die Priorität, obgleich wir aus der Geschichte dieser Streitigkeiten längst wissen, daß jede neue Idee in mehreren Köpfen zugleich entstanden ist, und er findet es aus irgendeinem Grund richtiger, sich das Genie als eine Quelle vorzustellen statt eines Stromes, in den vieles gemündet ist und der vieles verbindet, obgleich die genialsten Gedanken nicht mehr sind als Veränderungen anderer genialer Gedanken und kleine Beigaben. Darum «haben wir» auf der einen Seite «keine Genies mehr» – weil wir nämlich den Ursprung allzu deutlich zu sehn glauben und uns durchaus nicht dazu hergeben wollen, an das Genie einer Leistung zu glauben, die sich aus lauter Gedanken, Gefühlen und sonstigen Elementen zusammensetzt, welche wir einzeln unvermeidlich schon da und dann angetroffen haben müssen. Andererseits übertreiben wir die Einbildung vom Originalitätscharakter des Genies – zumal dort, wo die Prüfung an den Tatsachen und am Erfolg fehlt, also überall, wo es sich um nichts weniger als unsere Seele handelt – in einer so sinnlosen und verkehrten Weise, daß wir sehr viele Genies haben, deren Kopf nicht mehr Inhalt besitzt, als ein Zeitungsblatt, aber dafür eine auffallende und originelle Aufmachung. Diese, verbündet mit dem falschen Glauben an die unvermeidliche Ursprünglichkeit des Genies, verfeindet mit dem dunklen Gefühl, daß nichts hinter ihm steckt, gipfelnd in der völligen Unfähigkeit, aus den unzähligen Elementen einer Zeit jene Gebilde des geistigen Lebens zu schaffen, die nicht mehr sind als Versuche und doch den vollen Ernst der Sachlichkeit haben, gehört zu jener flauen Stimmung voll Zweifel an die Möglichkeit des Genies und Anbetung vieler Ersatzgenies, die heute herrscht.
    Clarisse, für welche Genie eine Sache des Willens war, gehörte, trotz vieler Schwächen, die sie besaß, weder zu den grell aufgemachten Menschen, noch zu den entmutigten. (Das heißt: statt original sein zu wollen, sollten die Leute aneignen lernen!) Sie schrieb mit großer Energie nieder, was sie gelesen hatte, und hatte das richtige Gefühl der Originalität dabei, indem sie sich diese Materie aneignete und wie in einer lebhaft flackernden Verbrennung geheimnisvoll zu ihrem eigenen und innersten Wesen werden fühlte. «Durch diesen Zufall sind,» schrieb sie hin «während ich schon an die Abreise dachte, die Erinnerungen in meinem Kopf zusammengestoßen. Daß die Sienesen (Perugia?) im Jahre ... ein Bild ... in die Kirche trugen, daß Dante ... sagt, welcher Brunnen heute noch auf der Piazza ... steht. Und daß Dante von der Frömmigkeit des bald danach heiliggesprochenen Franz von Assisi sagte: Wie ein strahlendes Gestirn stieg sie unter uns auf.»
    Wo sie sich nicht mehr an die Namen erinnerte, setzte sie Punkte. Das hatte später Zeit. Die Worte «wie ein strahlendes Gestirn aufgehen» fühlte sie aber in ihrem Leibe. Daß sie – nebenbei gedacht – der Aufsatz ergriff, den sie gelesen hatte, besaß seinen Grund darin, daß sie sich nach besseren Zeiten sehnte; aber nicht als Flucht, sondern so – das fühlte sie – daß etwas Aktives geschehen müßte.
    «Dieser Franz von Assisi» schrieb sie hin «war ein wohlhabender Sieneser Bürgerssohn, ein Tuchhändler und vordem ein flotter Bursche. Menschen von heute wie Ulrich, welche mit der Wissenschaft Kontakt haben, fühlen sich durch sein späteres Gehaben (nach der religiösen Erweckung) an gewisse manische Zustände erinnert, und es soll gar nicht geleugnet werden, daß sie damit recht haben. Aber was 1913 zur Geisteskrankheit wird, kann 13.. (zirkuläres Irresein, Hysterie, natürlich nicht anatomisch umschriebene Krankheiten, sondern nur solche, welche mit Gesundheit durchsetzt sind!!) bloß eine einseitige Belastung mit Gesundheit gewesen sein. Gewisse Krankheitsbilder sind nicht persönliche, sondern auch soziale Erscheinungen» (Wenn der gesunde Mensch eine soziale Erscheinung ist, dann ist es auch der kranke) –

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