Gesammelte Werke
glauben. Aber beide waren sie halb. Christus starb am Kreuz und Nietzsche im Irrenhaus. Sie starben an ihrer Halbheit. Aber sie waren eines, diese großen Feinde, zusammen ein Ganzes! Der Doppelmensch! Der Leib eines Weibes bezwang die beiden, indem er sie vereinte. Aber dieser Schauer der Männerfeindschaft und ihrer Bezwingung zersprengte fast den kleinen Körper Clarissens. Schweiß zitterte unter ihren Haaren hervor und die Lippen standen offen. Konnte sie sich da mit Walter abgeben und dem Schmerz, den sie ihm, «in grausamer Unschuld», zufügen mußte!? Sie preßte ihre Lippen heftig zu. Um Gott, ihres Vaters, willen durfte sie in diesem Augenblick nichts halb tun. «Wahnsinn» sagte sie sich abschließend «ist nichts anderes, als daß man ohne Halbheit und Maß das tut, was alle andern maßvoll und halb tun.» Sie verfügte über Mittel, weil sie die Sanatoriumsrechnung noch nicht beglichen hatte. Sie erfand eine Geschichte, daß sie ihren Mann, der unterwegs in der Nähe sei, überraschen und eine Nacht fortbleiben wolle, und brachte die Bedenken der Pflegerin durch ein hohes Trinkgeld zum Schweigen.
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Clarisse in Rom
[Früher Entwurf]
Zwischen Florenz und Rom wachte Clarisse auf. Sie bemerkte, daß sie ihren Plan, nach Siena zu reisen, abgeändert hatte. Kleine, wie aus grasgrünem Werg locker gedrehte Bäumchen standen längs der Bahn. Dann wurde die Ebene von einem runden Hügel mit runden Bäumen unterbrochen. Clarisse sagte befriedigt zu sich, daß die Formen der Landschaft, wenn man sie ohne Vorurteil betrachte, hier häßlicher seien als in der Heimat. Aber sie waren von einem fremden Marsch[?] gespannt, den sie umso deutlicher erkannte. Es dünkte sie, sie müsse, wenn sie sich anstrenge, eine kriegerische Melodie hören können; aber der dahinspringende Zug. machte das zunichte. Dagegen sah sie zwei Bäuerinnen nach, die auf einem Wege gingen, der so schmal und gerade wie eine mit Obstbäumen bepflanzte Pflugfurche zwischen den Feldern lief; ein Hahn und sieben Hennen trippelten vor den Frauen her, wie es anderwärts Hündchen tun. Clarisse stellte das als eine wichtige Tatsache fest, von der sie vielleicht später Gebrauch machen werde. Das sechsunddreißigstündige Rütteln des Zuges hatte sie erschüttert und müde gemacht.
Aber nun begannen Städtchen vorbeizufliegen und Clarisse wurde wieder aufmerksam. Solche Städtchen, die lagen auf einem Berg wie ein flacher Haufen alter, abgegriffener, schmutziger Kupferstücke; doch mit dem geheimnisvollen Feuer dieses Metalls. Clarisse machte unbekümmert um die Mitreisenden die große generöse Gebärde nach, mit der sie hingeworfen worden waren.
Oder solche Städtchen waren durch Risse und Spalten aus einem grünbraunen Lehmklotz herausgeschnitten worden. Es waren Städtchen, die nur aus starken Horizontal- und Vertikalstrichen bestanden. «Erarbeiten muß man es!» — fühlte Clarisse und rieb die Finger aneinander. Es gefiel ihr, daß die friedliche, betriebsame, bepflanzte toskanische Landschaft anfangs zu täuschen versuchte; sie hatte sich von ihr nicht täuschen lassen!
Und plötzlich stand ein rundes, verfallenes Kastell vor Wolken und Himmel, und einige Minuten später begann Clarissens Herz heftig zu schlagen. Dörfer stürzten nun vorbei wie Burgen, wie Basaltgebilde. Die verdammte Gutmütigkeit der nordischen Landschaft hatte endgültig aufgehört. Ein starkes altes Weib, häßlich mit einer roten Wächterfahne in der Hand mit roten Blumen auf einer roten Bluse und mit einem roten Kopftuch hing über einen Bahnschranken, Clarisse beugte sich weit aus dem Fenster hinaus, die häßliche Rote beseligte sie, ihre Finger schrien ihr Worte zu, die der Mund im Sturm des Zuges nicht formen konnte.
In Rom hielt es Clarisse jedoch nicht lange aus. Schon der Bahnhofsplatz mit seinen Palmen, den Geschäften und der Nähe großer Hotels, stieß sie zurück.
Sie ging trotzdem bis in die innerste Stadt und stieg in einem kleinen Albergo ab. Der Eindruck hatte sich inzwischen geändert. Der Abendhimmel war bis hoch hinauf orange; schwarz und gefiedert standen davor die Bäume. Die Luft am Ludovisi-Viertel, dieses einzigartige köstlich leichte starke Gemisch aus Meer- und Gebirgsluft erquickte sie. Sie atmete die Bekanntschaft einer neuen Kraft ein. (Prophetie des Faschismus.) Sie begann die anspruchsvolle Pracht der hochgelegten Privatgärten zu bemerken, die auf fünf bis acht Meter hohen Mauern über den Köpfen der gemeinen
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