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Gesammelte Werke

Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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Spaziergänger ruhten, und die riesigen Tore, die hohen Fenster, die in dieser Gegend selbst die Miethäuser besaßen. Hinter einer Parkmauer schrie ein Esel. «Wie selbst die Esel hier schreien!» dachte Clarisse. «Anders als bei uns. Sie schreien nicht i-a, sie schreien ja!» Es war ein metallener, schwebender Posaunenton. Sie glaubte auf den ersten Blick zu erkennen, daß es in dieser Stadt kein Spießbürgertum gäbe. (Oder es gibt es, aber eine wirbelnde Kraft bedroht es.) Alles war, während sie sich der Mitte näherte, voll Kraft, voll Hast und Lärm; Automobile rasten unvorhergesehen um Ecken und querten auf unberechenbaren Wegen über die Plätze; Radfahrer wimmelten lebensgefährdet und fröhlich zwischen ihnen durch; aus den vollen Tramwagen hingen Trauben junger Männer hinaus, die mitfahren wollten und sich in kühnen und unmöglichen Stellungen aneinanderklammerten. Clarisse fühlte, daß dies eine Stadt ihres eigenen Temperamentes sei, zum erstenmal erlebte sie eine solche. In der Nacht konnte sie nicht schlafen, weil unter ihren Fenstern eine kleine Bar ihre Tische in die enge Gasse gestellt hatte; die Leute sangen bis gegen Morgen Couplets und kreischten nach jeder Strophe einen heiter mißtönigen Refrain dazu. Clarisse wurde ganz elektrisiert davon. Obgleich es noch verhältnismäßig früh im Jahr war, war es schon sehr heiß, und Clarisse bekam von der Hitze Durchfall; es war ein entzückender Zustand, leicht wie Holundermark, befiedert und matt erregt.
    Alle Eindrücke, die Clarisse in Rom empfing, ordnete sie der kühnen, brennenden Farbe Rot unter. Wenn sie sich ihrer Erlebnisse im Sanatorium erinnerte, so war sie aus einem wässrigen Grün, einer zur Gegenwart gehörenden Farbe, der Farbe des deutschen Waldes, in dieses Rot gekommen, das das Rot der Prozessionen in ihrer Fantasie gewesen war; aber man muß sagen, daß sich Clarisse dieser Erlebnisse, die sie auf die Reise getrieben hatten, gar nicht recht erinnerte, wohl aber das Gefühl hatte, aus einem grünen Zustand in einen lodernd roten hineinzurennen. Es war Clarisse leider ganz unmöglich, darauf zu kommen, daß sie an Wahnvorstellungen leide. Denn grüne Zustände finden doch sogar ihre Komponisten, die sie vertonen, Töne werden heute gemalt, Gedichte bilden Sinnräume, Gedanken werden getanzt: es ist das ein vages Assoziieren, das im Auftreten ist, weil das Denken sein Ansehen eingebüßt hat; es ist ungefähr zu einem Achtel sinnvoll und zu sieben Achteln sinnlos, und Clarisse durfte sich noch sehr vorsichtig und überlegt vorkommen. Sie befand sich also mit ruhiger, gespannter Aufmerksamkeit auf dem Wege aus einem grünen Zustand in einen roten.
    Dabei begegnete es ihr, daß sie bei einem Streifzug durch die Paläste Roms das wundervolle, ganz rote Bildnis Innozenz X. von Velasquez sah; der Anblick schlug wie ein Blitz durch sie hindurch. Nun war ihr klar, daß diese lodernde Farbe des Lebens, Rot, zugleich die Farbe jenes Christentums war, das, nach Nietzsches Wort, dem antiken Eros Gift zu trinken gegeben hat. Die Farbe der Askese und der Verdächtigung der Sinne. «Oh, meine Lieben,» dachte Clarisse «ihr werdet mich nicht fangen!» Ihr Herz klopfte, wie wenn sie im letzten Augenblick eine sehr große Gefahr erkannt hätte. Sie hatte das doppelte Gesicht dieser Stadt erblickt. Es war die Stadt des Papstes, und sie erinnerte sich, daß Nietzsche den Versuch gemacht hatte, hier zu leben, und geflohen war. Sie ging zu dem Haus hin, wo er gewohnt hatte. Sie nahm nichts wahr. Das Haus «war geistig geschlossen». Sie ging lächelnd, bei jedem Schritt die Stadt überlistend, nach Hause. Es war eine Doppelstadt. Der dunkle Pessimismus des Christentums loderte hier zum Kardinalsrot auf, und in das rote Blut Nietzsches war hier das Schwarz des Wahnsinns geflossen. Aber was sie dachte, war Clarisse nicht so wichtig; die Hauptsache war die lächelnde Zweideutigkeit in allem, was sie gewahrte. Sie kam an Palästen, Ausgrabungen und Museen vorbei; sie hatte noch das wenigste davon gesehn, und ihre Eindrücke waren nicht auf das Maß der Wirklichkeit gesunken, sie nahm an, daß nebeneinander die wundervollsten Kostbarkeiten der Welt hier aufgestellt seien; aber das war ausgelegt wie ein Köder; sie mußte diese Schönheit ganz vorsichtig vom Haken nehmen. Und alles Schöne der Jugend beruht darauf, daß die Dinge, um die die Menschen kreisen, eine Seite haben, die man allein kennt.
    Auf irgendeine Weise hatte sich in Clarisse der Gedanke

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