Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Gesammelte Werke

Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
Vom Netzwerk:
Unkenntnis der Fahrpläne sich nicht einfach auf die Schienen legen und warten könne. Er setzte sich bei einem Einschnitt, worin die Bahn einen Bogen machte, oben auf die Böschung zwischen die spärlichen Blumen und hatte Ausblick nach beiden Seiten. Ein Zug kam vorbei, aber er ließ sich Zeit. Er beobachtete das ungeheure Anwachsen der Geschwindigkeit, das sich abspielt, wenn der Zug gleichsam durch die Nähe schießt, und horchte ins Gepolter der Räder, um sich vorstellen zu können, wie er vom nächsten Zug darin zerstampft werden würde. Dieses Klirren und Grölen schien, im Gegensatz zu dem Eindruck der Augen, außerordentlich lange zu dauern, und Hans wurde es kalt.
    Die Frage, warum er sein Leben gerade durch einen Eisenbahnzug beenden wollte, war überhaupt nicht geklärt. Aufhängen hat etwas gespenstisch Verzerrtes. Fenstersturz ist ein Weibermittel. Gift besaß er keines. Zum Aufschneiden der Pulsadern fehlte ihm die Badewanne. Auf diese Weise des Ausschlusses der anderen Möglichkeiten legte er methodisch logisch den gleichen Weg zurück, den er im blinden Entschluß mit einem Schritt genommen hatte; es befriedigte ihn, seine Instinkte waren noch nicht angegriffen. Er hatte allerdings den Tod durch Erschießen außeracht gelassen; das fiel ihm jetzt erst ein. Aber Hans besaß weder eine Pistole, noch konnte er damit umgehen und mit seinem Dienstgewehr wollte er nicht den letzten Augenblick teilen. Er mußte frei von kleinem Unglück sein, wenn er aus diesem Leben hinaustrat. Das brachte ihn darauf zurück, daß er sich innerlich vorzubereiten habe. Er hatte gesündigt und sich verunreinigt; das galt es festzuhalten. Ein anderer in seiner Lage würde vielleicht auf die vorhandene Heilaussicht gehofft haben; aber mochte Heilung möglich sein, Heil war unwiederbringlich verloren. Unwillkürlich zog Hans sein kleines Notizbuch und einen Bleistift aus dem Rock; aber ehe er den Einfall eintragen konnte, erinnerte er sich, daß das ja jetzt ganz sinnlos sei. Er behielt Notizbuch und Stift gedankenlos in den Händen. Sein ganzes Sinnen blieb auf den Satz gerichtet, daß er unrein und heillos geworden sei. Man hätte viel darüber sagen können. Zum Beispiel, daß das jüdisch beeinflußte Christentum die Sünde durch Reue und Buße gutzumachen gestatte, während die reine, germanische Vorstellung des Heilseins kein Abdingen und Handeln erlaube. Heilheit ist ein für allemal verloren wie Maidenschaft; und natürlich liegt gerade darin die Größe der Auffassung und Forderung. Wo findet man heute noch solche Größe? Nirgends. Hans war überzeugt, daß die Welt einen großen Verlust dadurch erleide, daß er sich ausschalten müsse. Die Größe und Wucht eines Eisenbahnzugs war wirklich fast die einzige Möglichkeit, die Größe und Wucht eines solchen Falles auszudrücken. Wieder kam einer vorbei. Dieses technische Wunder war ja klein und winzig, wenn man es mit der astronomischen Bauweise der Ägypter und Assyrer verglich, aber immerhin war es darin der Gegenwart fast gelungen, sich gotisch, über das materiell Gegebene hinausstrebend, auszudrücken. Hans hob die Hand und winkte den Menschen fast willenlos zu, die widerwinkten und ihre Köpfe aus den Fenstern drängten, zu mehreren, wie die Menschentrauben auf naiven alten Skulpturen. Das tat ihm wohl. Aber Wohlsein, Trauer und alles was ihm einfiel, war bloß wie Rauch, und wenn der sich wieder verzog, lag der Satz, daß Hans Sepp unrein und heillos geworden sei, unberührt da; es verband sich nichts dauernd mit ihm, die Idee wollte nicht mehr wachsen. Wenn Hans daheim vor einem Tisch mit Feder und Papier gesessen wäre, würde es wohl vielleicht noch anders gekommen sein; gerade daran konnte er fühlen, daß er zu keinem anderen Zweck mehr hier war, als um sein Dasein zu beenden.
    Er zerbrach seinen Bleistift und zerriß sein Notizbuch in kleine Stückchen. Das war ein großer Schritt. Er stieg nun die Böschung hinab, setzte sich am Rand der Schotterung ins Gras und warf die Fetzen seiner geistigen Welt vor den nächsten Zug. Der Zug verstreute sie. Vom Bleistift war nichts mehr zu finden, die hellen Papierschmetterlinge, gerädert und mitgesaugt, bedeckten den Bahndamm zu beiden Seiten auf hundert Schritte hin. Hans rechnete sich aus, daß er ungefähr zwölfmal größer sei als dieses Notizbuch. Dann faßte er seinen Kopf zwischen beide Hände und begann mit dem letzten Abschied. Der sollte, alles zusammenfassend, Gerda gelten. Er wollte ihr vergeben und,

Weitere Kostenlose Bücher