Gesammelte Werke
hatte Clarisse für sich und Ulrich ein Zimmer gemietet. Das Haus war zugleich die Kantine des Forts, und es standen den ganzen Tag dunkelblaue Soldaten mit gelben Tressen auf den Ärmeln in seiner Nähe herum. Man hatte davon nicht eigentlich das Gefühl des Lebens von Menschen, sondern eher eine das Herz leerende Beklemmung wie von Deportation oder dergleichen. Auch die jungen Männer, die mit einem Gewehr im Arm vor den mit Segelplachen zugedeckten Geschützen spazierengingen, verstärkten diesen Eindruck; wer hatte sie dort hingestellt? wo war, in welcher Weite, das Gehirn dieses Wahnsinns, der sich in einem lustlosen, pedantischen, katatonisch starr festgehaltenen Automatismus äußerte?
Es war die rechte Insel für Ulrich und Clarisse und Ulrich taufte sie «die Insel der Gesundheit», weil jeder Wahnsinnseinfall auf ihr hell erschien, auf ihrem dunklen Untergrund. Er hatte Clarisses Telegramm nachts erhalten, als er nach Hause kam und seinen Garten durchschritt. Beim Schein einer Lampe an der weißen Hauswand hatte er die Depesche aufgebrochen und gelesen, weil er dachte, sie käme von Agathe. Es war schon Ende Mai. Aber die Mainacht war wie eine verspätete Märznacht; die Sterne blickten spitz, in die Höhe gezogen, frostig kraus aus dem unerhellten, unendlich weit entrückten Himmelszelt, Die Sätze des Telegramms waren lang und wirr, aber von dem Rhythmus einer Erregung zusammengehalten. Wenn Clarisse der kleinen militärischen Mitte ihrer Insel den Rücken wandte, lag die Einsamkeit vor ihr wie die Wüste, in die sich der Heilige zurückzieht. Ein überstarker, voll Grauens lüsterner, starrer Gefühlston war mit dieser Vorstellung, sich zurückzuziehn, verknüpft, etwa letzte Läuterung und Probe auf dem Weg des «Großen». Der Ehebruch, dessen sie sich schuldig gemacht hatte, mußte auf dieser Insel vollendet werden, wie auf einem Kreuz, denn wie ein Kreuz, auf das sie sich legen müsse, kam ihr der leere, von keinem Menschen betretene Sand draußen über den Wellen vor. Von alledem kam etwas in der Depesche vor. Ulrich erriet, daß nun wirklich über Clarisse die große Unordnung hereingebrochen sei, aber gerade das war ihm recht.
In ihrem kleinen Wirtshaus bewohnten sie ein Zimmer, in dem kaum die unentbehrlichsten Möbel standen, aber von der Mitte der Decke hing ein venetianischer gläserner Lüster hinab, und an den Wänden hingen große Spiegel in breiten Glasrahmen, die mit Blumen bemalt waren. Sie setzten morgens auf die Insel der Gesundheit über, die wie eine Spiegelung in der Luft schwebte, und wenn sie dort waren, blickten sie auf die Wohninsel zurück, die mit ihren Kanonen, Scharten, Bastionskämmen, Häuschen und Bäumen wie ein rundes, volles, ausgestoßenes Wort dalag, das den Zusammenhang mit seiner Rede verloren hat.
Sie hatten bald überall Tafeln entdeckt, auf denen zu lesen war, daß auf diesen Inseln das Zeichnen und Malen verboten sei. Sie stehen im Bereich aller Festungen der Welt, aber Clarisse sagte: «Wie ungeheuerlich würde man es empfinden, wenn es einen Punkt auf der Erde gäbe, auf dem es hieße: hier ist das Beten verboten! Wie lügen sie, wenn sie zu wissen vorgeben, was Kunst ist!» Ulrich antwortete nach einer Weile, während deren ihn seltsame Ideen berührten: «Ein heilig erbitterter Spion wäre denkbar, der alle diese Festungspläne verriete.» Aber daß es ihnen verboten war, zu zeichnen und malen, brachte sie zunächst noch auf einen anderen Einfall, den sie anfangs wie eine Rache ausführten. Clarisse schlief wenig; sie stand beim ersten Morgengrauen auf und setzte auf die Insel über. Als Ulrich erwachte, war sie fort. Ulrich folgte gemächlich mit dem hellen Tag. Von Clarisse war nichts zu sehen. Sie mochte weit weg in irgendeiner Sandfalte oder hinter einem kleinen Hügel liegen. Aber er war kaum einige Schritte gegangen, so stieß er auf eine Spur. Es waren zwei Steine und eine darüber gelegte Feder; das hieß: ich wünsche dich zu sehn, komm zu mir, so schnell wie der Vogel fliegt, aber du wirst mich nicht finden. Einige Schritte weiter lag ein runder, ausgesuchter Stein im Weg: das hieß, ich bin hart, stark und gesund. War es aber ein Stück Kohle im weißen Sand, so bedeutete es: ich bin heute schwarz, trübe und traurig. Als er Clarisse fand, sagte sie nichts davon. Aber das wiederholte sich oft, und allmählich lernte er diese Sprache verstehn, die sie erfunden hatte. Solcher Zeichen waren noch viele. Eine Pfefferschote bedeutete: ich bin heiß,
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