Gesammelte Werke
Ulrich konnte das ausgezeichnet erklären. Es war vielleicht Wahnsinn. Aber ein Förster sieht auf einem Spaziergang eine andere Welt als ein Botaniker oder ein Mörder. (Man sieht viele unsichtbare Dinge.) Eine Frau sieht den Stoff eines Kleids, ein Maler einen See flüssiger Farben an seiner Stelle. Ich sehe durchs Fenster, ob ein Hut hart oder weich ist. Wenn ich auf die Straße blicke, sehe ich ebenso, ob es draußen warm oder kalt ist, ob Menschen lustig, traurig, gesund oder kränklich sind; ebenso sitzt der Geschmack einer Frucht manchmal schon in den Fingerspitzen, die sie anfühlen. Ulrich erinnerte sich: wenn man etwas verkehrt ansieht, zum Beispiel in der Kamera des kleinen Photographenapparates, bemerkt man übersehene Dinge. Ein Hin- und Herschwanken von Bäumen und Sträuchern oder Köpfen, die dem freien Auge reglos erscheinen. Oder die hüpfende Eigenart des menschlichen Ganges kommt einem zum Bewußtsein. Man ist erstaunt über die fortwährende Unruhe der Dinge. Ebenso sind unwahrgenommene Doppelbilder im Gesichtsfeld, denn das eine Auge sieht ja etwas anderes als das zweite; Nachbilder lösen sich wie allerfeinste farbige Nebel vor den Augenblicksbildern auf; das Gehirn unterdrückt, ergänzt, formt die vermeinte Wirklichkeit; das Ohr überhört tausend Geräusche des eigenen Körpers, die Haut, die Gelenke, die Muskeln, das innerste Ich senden ein Ineinanderspiel unzähliger Empfindungen, die stumm, blind und taub den unterirdischen Tanz des sogenannten Wachseins aufführen. Ulrich erinnerte sich, wie er einmal, nicht gar so hoch im Gebirge, nur früh im Jahr in einen Schneesturm geriet; er war damals Freunden entgegengegangen, die einen Weg herabkommen sollten, und er hatte sich schon gewundert, sie noch nicht getroffen zu haben, als das Wetter sich plötzlich änderte, die Klarheit sich verfinsterte, ein heulender Sturm losbrach und Schnee in dichten Wolken spitzer Eisnadeln auf den Einsamen schleuderte, als ob es diesem ans Leben ginge. Obgleich Ulrich schon nach wenigen Minuten den Schutz einer verlassenen Hütte erreichte, hatten ihn Wind und Schneemassen bis an die Knochen erreicht, und die eisige Kälte, wie der anstrengende Kampf gegen den Orkan und die Wucht des Schnees hatten ihn in der kürzesten Zeit ermüdet. Als das Unwetter ebenso rasch vorbeiging wie es gekommen war, setzte er freilich seinen Weg fort und er war nicht der Mann, sich durch ein solches Ereignis einschüchtern zu lassen, wenigstens war sein bewußtes Selbst ganz frei von Aufregung und jeder Art Überschätzung der überstandenen Gefahr, ja er fühlte sich äußerst aufgeräumt. Aber er mußte dennoch erschüttert worden sein, denn mit einemmal hörte er die Partie sich entgegenkommen und rief sie heiter an. Aber niemand antwortete. Er rief nochmals laut — denn im Schnee konnte man leicht vom Weg ab und aneinander vorbeikommen – und lief, so gut er es vermochte, in der wahrgenommenen Richtung, denn der Schnee war tief, er hatte sich nicht darauf gefaßt gemacht und den Aufstieg ohne Skier oder Reifen unternommen. Nach etwa fünfundzwanzig Schritten, bei deren jedem er bis an die Hüften einbrach, mußte er vor Erschöpfung stillhalten, aber in diesem Augenblick hörte er wieder die Stimmen in angeregtem Gespräch und so nah, daß er die Sprechenden, die nichts verdecken konnte, unbedingt hätte sehen müssen. Niemand war jedoch da als der weiche, hellgraue Schnee. Ulrich nahm seine Sinne zusammen und das Gespräch wurde deutlicher. Ich halluziniere – sagte er sich. Dennoch rief er abermals; ohne Erfolg. Er begann sich vor sich selbst zu fürchten und prüfte sich auf jede Weise, die ihm einfallen mochte, sprach laut und zusammenhängend, rechnete im Kopf kleine Aufgaben aus und machte mit Armen und Fingern schwierige Bewegungen, deren Ausführung volle Herrschaft über sich erforderte. Das alles gelang, ohne daß die Erscheinung wich. Er hörte ganze Gespräche, voll überraschenden Sinns und in klangvoller Mehrstimmigkeit. Da lachte er, fand das Erlebnis interessant und begann es zu beobachten. Aber auch das machte die Erscheinung nicht verschwinden; die erst abklang, als er umgekehrt und schon etliche hundert Meter abgestiegen war, während seine Freunde überhaupt nicht diesen Rückweg genommen hatten und keine menschliche Seele in der Nähe war. So unsicher und ausdehnend ist die Grenze zwischen Wahn und Gesundheit. Es überraschte ihn eigentlich nicht, wenn Clarisse mitten in der Nacht ihn zitternd weckte
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