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Gesammelte Werke

Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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und behauptete, eine Stimme zu hören. Wenn er sie fragte, war es keine Menschenstimme und keine Tierstimme, sondern eine «Stimme von etwas» (Moosbrugger! vielleicht: Ulrich kann denken, sie sei nur hysterisch und spiele das nach, was sie von Moosbrugger erfahren hat), und dann hörte er plötzlich auch ein Geräusch, das in keiner Weise auf ein dingliches Wesen zu beziehen war, und im nächsten Augenblick, während Clarisse immer heftiger zitterte und die Augen wie ein Nachtvogel aufriß, schien etwas Unsichtbares im Zimmer zu gleiten, schleifend an den Spiegel in gläsernem Rahmen zu stoßen, unkörperlich zu drängen, und auch in Ulrich schoß panikartig – nicht eine Angst, ein Bündel von Ängsten, eine Welt der Angst empor, so daß er alle Vernunft aufbieten mußte, um selbst zu widerstehn und Clarisse zur Ruhe zu bringen.
    Aber er bot nicht gern die Vernunft auf. In dieser Unsicherheit, welche die Welt in der Umgebung Clarissens annahm, konnte man sich seltsam glücklich leben fühlen. Die Zeichnungen im Sand und Modelle aus Steinen, Federn und Ästen nahmen nun auch für ihn einen Sinn an, als ob hier, auf der Insel der Gesunden, sich etwas erfüllen wollte, das von seinem Leben schon einige Mal berührt worden war. (Hierher: Rolle der menschlichen Erlebnisse, die sich nicht durch verständige Übertragung, sondern durch Ansteckung verbreiten. Ein soziales (Menschheits) Erlebnis zu zweit.) Es schien ihm der Grund des menschlichen Lebens eine ungeheure Angst vor irgendetwas, ja geradezu vor dem Unbestimmten zu sein. Er lag im weißen Sand zwischen dem Blau der Luft und des Wassers, auf der kleinen, heißen Sandplatte der Insel zwischen den kalten Tiefen des Meeres und Himmels. (Er lag wie im Schnee. Wenn er damals verweht worden wäre, hätte es so kommen können.) Hinter den Hügeln mit Disteln tollte Clarisse und spielte wie ein Kind. Er fürchtete sich nicht. Er sah das Leben von oben. Diese Insel war mit ihm davongeflogen. Er begriff seine Geschichte. Hunderte von menschlichen Ordnungen sind gekommen und gegangen; von den Göttern bis zu den Nadeln des Schmucks, und von der Psychologie bis zum Grammophon jede eine dunkle Einheit, jede ein dunkler Glaube, die letzte, die aufsteigende zu sein, und jede nach einigen hundert oder tausend Jahren geheimnisvoll zusammensinkend und zu Schutt und Bauplatz vergehend (Das Gestaltlose!): was ist dies anderes als ein Herausklettern aus dem Nichts, jedesmal nach einer anderen Seite versucht? (Und keine Spur davon, das in Zyklen einfassen zu können!) Als einer jener Sandberge, die der Wind bläst, dann eine Weile lang die eigene Schwere formt, dann wieder der Wind verweht? Was ist alles, was wir tun, anderes als eine nervöse Angst, nichts zu sein: von den Vergnügungen angefangen, die keine sind, sondern nur noch ein Lärm, ein anfeuerndes Geschnatter, um die Zeit totzuschlagen, weil eine dunkle Gewißheit mahnt, daß endlich sie uns totschlagen wird, bis zu den sich übersteigenden Erfindungen, den sinnlosen Geldbergen, die den Geist töten, ob man von ihnen erdrückt oder getragen wird, den angstvoll ungeduldigen Moden des Geistes, den Kleidern, die sich fortwährend verändern, dem Mord, Totschlag, Krieg, in denen sich ein tiefes Mißtrauen gegen das Bestehende und Geschaffene entlädt: was ist alles das anderes als die Unruhe eines Mannes, der sich bis zu den Knien aus einem Grab herausschaufelt, dem er doch niemals entrinnen wird, eines Wesens, das niemals ganz dem Nichts entsteigt, sich angstvoll in Gestalten wirft, aber an irgendeiner geheimen Stelle, die es selbst kaum ahnt, hinfällig und Nichts ist?
    Ulrich erinnerte sich an jenen Mann im grünen Kreis der Laterne den er mit Clarisse und Meingast beobachtet hatte. Hier auf der Insel der Gesundheit war sogar dieses verzerrte menschliche Gebilde, dieser Exhibitionist, dieses verzweifelte Geschöpf, das sich aus dem Dunkel, Geschlechtslust stehlend, hervorgekrümmt hatte, wenn eine Frau vorbeiging, nichts Grundverschiedenes von anderen Menschen. Was waren Walters empfindsame Musik oder Meingasts Staatsgedanken von dem gemeinsamen Wollen vieler Menschen anderes als einsamer Exhibitionismus? (Hier eine Stimmungs-Abrechnung mit Ulrichs Heroismus.) Was ist selbst der Erfolg eines Staatsmannes, der mitten im menschlichen Betrieb steht, anderes als betäubende Ausübung mit dem Schein einer Befriedigung? In der Liebe, in der Kunst, in der Habsucht, in der Politik, in der Arbeit und im Spiele suchen wir unser

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