Gesammelte Werke
Systems der Philosophie. Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1939. (Heidelberger Abhandlungen zur Philosophie und ihrer Geschichte. 28.)
Die Aufsätze, die der Band vereint, sind mit einer Ausnahme im Logos erschienen. Sie hängen eng miteinander zusammen als Prolegomena zum zweiten, ausführenden Band von Rickerts System, der nicht mehr zustande kam. Abzielend auf eine konstitutive Formenlehre des »Intelligibeln« – in Rickerts Sinn: des Kosmos der kulturwissenschaftlichen Erfahrungsgegenstände –, enthalten sie zugleich Erwägungen zur »Prophysik«, der prima philosophia, wie Rickert sie intendierte. Der Abhandlung über die »Erkenntnis der intelligibeln Welt und das Problem der Metaphysik« gehen Erwägungen über den philosophischen Anfang, das unmittelbar Gegebene und dessen Beziehung zum »Verstehbaren« voraus. Dessen Begriff steht im Zentrum. Rickert ist in seiner Spätzeit offenbar sehr von Dilthey beeindruckt worden, obwohl er den Namen nicht nennt, dafür aber ausdrücklich gegen die verstehende Psychologie und die Lehre vom Strukturzusammenhang polemisiert. Er sucht den Diltheyschen Psychologismus neukantisch in eine Lehre vom objektiven Geist umzubilden. Wie diese als nicht-spekulative Wissenschaft möglich sei, ist das Thema.
Voran stehen zwei Einleitungen: eine salopp geschriebene von Hermann Glockner, voll versteckter Ausfälle gegen Rickert, unter denen der des Mangels an Gelehrsamkeit nicht fehlt; eine von Rickerts wohlbekanntem Famulus Faust, die sich mit der Funktion eines nationalsozialistischen Sichtvermerks begnügt und der nachgerade anrüchigen Methodologie als »Marschsicherung« das gute Gewissen macht. Im geschrumpften Lebensraum der deutschen philosophischen Fakultäten ist offenbar der Konkurrenzkampf urtümlich entbrannt: es braucht nur ein Löwe zu sterben, und sogleich fallen die trauernden Hinterbliebenen über die Leiche her, um eben noch deren Dekomposition durchs Vergessenwerden zuvorzukommen.
Danach gewährt der Band einige Überraschung. Es ist kein Mangel an professoralen Naivetäten, »... oder, wie schon Heraklit sagt: alles fließt.« Die altmeisterliche Redseligkeit, die sich nichts mehr übel nimmt, ist nur mit dem Geisteszustand einer bereits durch Leibesübungen abgehärteten Studentenschaft zu entschuldigen; die ärgsten Rekapitulationen (S. 97–110) hätten übrigens durch eine liebevollere Edition beseitigt werden können. Eine solche würde das unbeholfene Feuilleton »Über die Welt der Erfahrung« nicht abdrucken. Sonst aber zeigen die Aufsätze eine intellektuelle Anstrengung, wie sie die versierte akademische Generation, die Rickert verachtet, kaum mehr aufbringt. Rickerts Naivetät bedeutet zumindest, daß er seine Arbeit ernst nimmt.
Die Abhandlung »Vom Anfang der Philosophie« ist in gewisser Weise ein Seitenstück zu Husserls Méditations Cartésiennes: »Von einem ... psychologischen Anfang, der sehr verschieden gestaltet sein kann, sucht der kritische Denker zunächst zum absolut Gewissen vorzudringen, um es als das logisch Unmittelbare an den Anfang des Systems zu stellen, und muß dabei das, was Anfang der Welt oder letztes ontologisches Prinzip ist, noch unbestimmt lassen« (14). Das kommt der Husserlschen Methode der Reduktionen, der »phänomenologischen« – die Rickert mit Recht noch psychologisch nennt – und der »eidetischen« aufs letzte ontologische Prinzip, recht nahe. Husserls phänomenologisches Residuum heißt bei Rickert »universales Minimum«: beide stellen sich das absolut Erste, dem ihre Philosophie nachhängt, vor als das, »was übrig bleibt«, gewissermaßen als den Gewinn an absolut sicherem Sein, den der Philosoph nach Abschreibung aller Unkosten der kategorialen Arbeit buchen kann 1 . In diesem bei Rickert zwischen Subjekt und Objekt indifferenten Minimum steckt bereits als Postulat das System und damit die Harmonie der Welt: »... daß es ein gegliedertes Weltganzes gibt, steht für die Philosophie von vornherein fest, und insofern ist sie in der Tat die voraussetzungsvollste aller Wissenschaften zu nennen.« (16) Philosophie wird a fortiori als System definiert. Die Subjekt-Objekt-Identität ist eine Stipulation. Nur wenn sie gilt, vermag das Seiende als Ganzes im Residuum so ohne weiteren Rest aufzugehen, wie es in einem »Prinzip ... liegt, welches alle Teile zu einem gegliederten Ganzen zusammenschließt« (l.c.).
Der Scharfsinn Rickerts zeigt sich in der Diskussion des »universalen Minimums«. Wenn in
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