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Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: W. Theodor Adorno
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ihrer Kritik aneinander die idealistischen Philosophen allemal recht haben, dann ist Rickert in der Analyse des Ichbegriffs Husserl in wesentlichen Momenten überlegen, so weit er ihm auch an begrifflicher Differenziertheit, an konkreter Fülle in der Abstraktion nachsteht. Er hat eine drastischere Vorstellung von der Subjektivität als Husserl: davon, daß zum »Akt«, zur »Gegebenheit«, zu all dem, was jener als bloße Vorfindlichkeit registrieren würde, ein Mensch gehört, der »meint«, dem »gegeben ist«, der »vorfindet«. Es ist aber, paradox scheinbar, gerade dies Wissen, das Rickert in Wahrheit hellsichtiger gegen den Psychologismus macht als den Autor der Logischen Untersuchungen. Indem er das unmittelbar Gegebene dem »eigenen Ich« »heterothetisch« zuweist, kann er nicht länger das eigene Ich als bloße Organisationsform von Gegebenem ansehen. Es muß in einiger Selbständigkeit zu allem Objektiven hinzugedacht werden und ist damit von Anbeginn weit substantieller als für Husserl. Damit aber gerade verfällt es Rickerts Kritik. Bei Husserl ist der Ausgang vom Ich als »mir«, dem Individuum, unproblematisch, weil ihm das Individuum eigentlich nichts bedeutet. Rickert aber durchschaut die »Ausnahmestellung, die dabei das eigene Ich erhält« (22), als kontingent. Seine Analyse des Solipsismus als der Ausgangsposition der prima philosophia hat noch Spuren der Kraft des großen Idealismus: »Warum soll ich mich ... am Anfang der Philosophie mit meinen Vorstellungen nicht allein denken? ... aber es kommt alles darauf an, was man unter ›allein‹ versteht .... Allein bedeutet ... soviel wie einsam, und dieser Begriff verliert seinen Sinn, wenn man dabei nicht an eine Gemeinschaft denkt, von der man sich getrennt hat. Ja, gerade das Ich, das sich ›allein‹, d.h. einsam weiß, muß eine Gemeinschaft von anderen, ihm in ihrem Sein koordinierten Individuen voraussetzen. Ein einsames Ich als ›Welt‹ gibt es nicht und kann es nicht geben«. (23) Rickerts Einsicht geht darüber noch hinaus. Er verschmäht den Ausweg, das individuelle Ich durch Gemeinschaftsbewußtsein – bei Husserl: Intersubjektivität – zu substituieren. Seiner prima philosophia ist die Erkenntnis der Entfremdung zugänglich: »Wir haben eine Fülle von unmittelbar gegebenen Bewußtseinsinhalten, die sich nicht auf Personen und ihr Verhältnis zueinander beziehen, und damit sinkt auch der Inhalt des zum Gemeinschaftsbewußtsein erweiterten Selbstbewußtseins zu einem partikularen Gebilde im Umkreis des unmittelbar Gegebenen herab.« (25) Es kommt zu der dezidierten Formel: »Wir dürfen nie hoffen, von einem bloßen Stück des unmittelbar Gewissen zum universalen Minimum vorzudringen«. (25) Hier freilich erlahmt die Bewegung des Begriffs: sie vermag es nicht mehr, den Glauben an die Unmittelbarkeit selber aufzulösen. Das »abstrakte Ichmoment« eines schlechthin nicht Objektivierbaren, das Rickert schließlich als das eigentliche Residuum in Anspruch nimmt, ist in der Tat so abstrakt, daß es nicht bloß, wie Rickert gegen die Phänomenologie hält, nicht angeschaut, sondern nicht einmal mehr gedacht werden kann. Das reine Ich des Idealismus bleibt auch bei Rickert ein aporetischer Begriff.
    Den Übergang von Rickerts prima philosophia zur Theorie des »Verstehbaren« enthält der Aufsatz »Die Methode der Philosophie und das Unmittelbare«. Sein Inhalt ist eine Kritik des »hyletischen Sensualismus«. Darunter wird eine jede Auffassung gedacht, welche als unmittelbar gegeben lediglich die sensuellen Momente gelten läßt. Sonderbarerweise erhebt er den Vorwurf eines solchen Sensualismus auch gegen Kant und Husserl. Dabei sind Mißverständnisse im Spiel: Husserl etwa vertritt zwar die Ansicht eines hyletischen »Kerns« jeglicher Erkenntnis, rechnet aber die Akte (Noesen) als solche ebenso zu den unmittelbaren Bewußtseinstatsachen wie die Empfindungen. Nicht dagegen die Aktgegenstände, das »Gemeinte« (Noemata). Auf diese gerade kommt es Rickert an: ihre Totalität ist die seines mundus intelligibilis. Während er den Aktgegenstand mit all seinen Husserlschen Charakteristika, insbesondere dem der Nicht-Zeitlichkeit des Noemas, übernimmt, ignoriert er die Husserlsche Korrelationstheorie und macht das in einem Akt Gemeinte selber zur Unmittelbarkeit. Das unkritische Stehenbleiben beim Begriff des Unmittelbaren führt zu einer Konfusion, die dann in den Schlußteilen des Buches, in unausdrücklichem doch offenem Widerspruch

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