Gesammelte Werke
Positivismus sucht Rickert positivistischen Anforderungen Genüge zu tun: einem Ideal von ›Wissenschaftlichkeit‹, das an Fetischen wie dem des Unmittelbaren sein Maß hat. Die Argumente sind durchwegs nachträgliche Hilfskonstruktionen für Erkenntnisse, die sich nicht auf Grundtatsachen ›zurückführen‹, sondern nur im theoretisch ausgebildeten Zusammenhang der gesellschaftlichen Erfahrung gewinnen lassen. Daher die Ohnmacht. Entweder es kommt zu Pseudodeduktionen, wo nichts aus bloßen Begriffen geschlossen werden kann, oder es wird der wissenschaftlichen Induktion zugemutet, was sie am letzten leistet: »Es bleibt uns also auch im Gebiet des Intelligiblen nichts anderes übrig, als daß wir versuchen, vom Besonderen zum Allgemeinen zu kommen, und zwar, wie nicht erst ausdrücklich nachgewiesen zu werden braucht (!), wieder wie im Sensiblen zu einem Allgemeinen, das mehr als relativ oder bedingt allgemein ist.« (178) Dies Verlangen fällt hinter Kant zurück. Die Unmöglichkeit des Systems rührt nicht von der angeblichen Irrationalität eines Lebens her, die selber rational sehr wohl zu durchdringen ist. Vielmehr hat jene Unmöglichkeit rationale Gründe. Die Widersprüche des ›Lebens‹ haben die Begriffe so weit beschlagnahmt, daß diese so wenig mehr sich versöhnen lassen wie das Leben. Der Glaube an ihre systematische Versöhnbarkeit ist zum Aberglauben geworden. Die Welt als Einheit denken – dies Zu viel denken involviert heute ein Zu wenig denken. Schon gehören Scharfsinn und Schwachsinn zusammen.
1940
Fußnoten
1 Unabhängig von Rickert und Husserl wird der Begriff des Residuums, im Gegensatz zu dessen Derivaten, in der Soziologie Paretos gehandhabt. Er dient hier dem universalen Ideologiebegriff: alles, was nicht ›übrig bleibt‹, geht des Anspruchs auf Wahrheit verlustig. Das Denken wird als bloße Ableitung tabuiert. Die Tendenz dazu liegt im Begriff des absolut Ersten als eines durch Subtraktion Herauszusondernden bereit. Der prima philosophia inhäriert bei allem ›Rationalismus‹ der Glaube, es könne wahr nur sein, was man ›hat‹.
Ad Lukács
Der Aufsatz »Heidegger redivivus«, den Lukács jüngst in »Sinn und Form« hat erscheinen lassen (1949, 3. Heft, S. 37ff.), ist ein Schulfall der Unzulänglichkeit transzendenter Kritik. Heideggers Schrift über Platons Lehre von der Wahrheit wird mit einem dialektischen Materialismus konfrontiert, den Lukács definiert als den »Standpunkt der Priorität des Seins dem Bewußtsein gegenüber«, während Idealist sei, wer »das Sein vom Bewußtsein hervorgebracht« denke (44). Im Sinn dieser Alternative wird Heidegger verworfen, die Differenz von Lukács vorweg zum Kriterium des Urteils erhoben, anstatt daß in die Argumentation eingegangen wäre und aus deren eigener Kraft der Standpunkt Lukács' als der überlegene sich erhärtete. Darum bleibt die ganze Kontroverse unfruchtbar. Lukács bestätigt Heidegger, »daß ›Sein und Zeit‹ in bestimmtem Sinne eine große Auseinandersetzung mit dem von Marx wissenschaftlich entdeckten und auf seine Gesetzmäßigkeit gebrachten Phänomen des Fetischismus bildet« (40). Mit anderen Worten, der Heideggersche ›Rückgriff‹ hinter die Subjekt-Objekt-Beziehung, wie sie das Thema der traditionellen Philosophie bildet, wird angesehen als ein Versuch zum Ausbruch aus eben jenem verdinglichten Denken, dem Lukács seinerzeit in »Geschichte und Klassenbewußtsein« so eindringliche Analysen gewidmet hat. Es wäre nun die kritische Aufgabe gewesen zu zeigen, daß solcher Ausbruchsversuch, indem er Abstrakta höherer Ordnung wie Sein und Dasein hypostasiert und in gewissem Sinn eine Kant gegenüber vorkritische, ontologische Position bezieht, in Widersprüche sich verwickelt, die durch die Bewegung des Begriffs zu leistende Konkretion durch schillernde, sowohl ontologisch wie ›ontisch‹ aufzufassende Kategorien erschleicht, und damit endlich selber in Verdinglichung, die vorsokratische Mythologisierung des Begriffs zurückfällt. Dabei wäre zugleich eine Kritik der ›Anfänglichkeit‹ zu leisten, des Aberglaubens an eine Rangordnung der Wahrheit im Sinn von Prioritäten, wie Heidegger sie gerade mit der traditionellen Philosophie, zumal der Aristotelischen prima philosophia, gemeinsam hat. Die politisch-gesellschaftlichen Implikationen des faschistischen Seinskults, die Hierarchie nach ›Ursprünglichkeiten‹, wäre aus der Bestimmung von deren eigener Inkonsistenz zu
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